Wenn ein Mensch sich einer Religion zuwendet, ist er meist entweder bereits mit ihr aufgewachsen oder er hatte ein „Bekehrungserlebnis“. Solche Erlebnisse sind Momente der Erkenntnis, der Neuorientierung, sie können in neue soziale Gemeinschaften führen, „oft gepaart mit der Überzeugung, etwas Gutes und Richtiges zu tun“. Auffallend ähnlich läuft es ab, wenn Menschen beginnen, einer bestimmten Ernährungslehre anzuhängen, etwa auf tierische Produkte ganz zu verzichten. Das erklärt die neuste Folge des Funkkollegs vom Inforadio des Hessischen Rundfunks (HR) zum Thema Ernährung. So könnte etwa ein Video über nicht artgerechte Tierhaltung bei jemandem zu der Entscheidung führen, kein Fleisch mehr zu essen, erklärt der Theologe Kai Funkschmidt von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen.
Für den veganen Kochbuch-Autoren Attila Hildmann hat der Tod des Vater entscheidend dazu beigetragen, seine Ernährungsweise zu ändern. Sein Vater war an einem Herzinfarkt gestorben. Hildmann berichtet in dem Podcast davon, dass er, damals übergewichtig, Angst hatte, selbst Herzprobleme zu bekommen. Ein Gespräch mit einem Freund über Tierhaltung hat ihn dann schließlich zu dem Entschluss gebracht, erst vegetarisch und schließlich vegan zu leben. „Rückblickend wäre das sicherlich eine effektive Methode gewesen, meinen Vater am Leben zu erhalten“, sagt er.
Die britische Bloggerin Ella Woodward, Gründerin der Marke „Deliciously Ella“, beschreibt ebenfalls, dass ihr eine vegane, zucker- und glutenfreie Ernährung gesundheitlich geholfen habe, sodass sie schließlich Medikamente absetzen konnte. Solche persönlichen Geschichten, die Emotionen ansprächen, seien ein Grund für den Erfolg von Ernährungsratgebern, heißt es in dem Beitrag weiter. Mit Ernährungsweisen seien Heilsversprechen verbunden, Gesundheit an Körper und Geist. Darin liege eine Parallele zur Religion: „Heilungserlebnisse sind nun ein ganz typisches Element von Religionen. Für das Christentum auch zur Zeit in Afrika und Asien sind Heilungsberichte einer der Hauptgründe, warum sich Menschen zu einer Religion halten“, erklärt Funkschmidt.
Er findet bei Veganern auch ein Bewusstsein des Auserwähltseins und soziale Abgrenzungsmechanismen wieder, die es in Religionen gibt: „Man isst nicht nur vegan, man ist Veganer.“ Als solcher gehöre man zu einer Gemeinschaft und definiere die eigene Identität über die Ernährungsweise.
Mit veganem Leben die Apokalpyse abwenden
Nach Ansicht von Johann Christoph Klotter, Professor für Ernährungspsychologie an der Hochschule Fulda, ist die religiöse Dimension der Ernährung unbewusst. Mit dem Bedeutungsverlust des kirchlich-christlichen Sündenbegriffs habe sich Religion verweltlicht „und lebt in der DGE fort – Deutsche Gesellschaft für Ernährung, die sagt: Das darfst du essen, das darfst du nicht essen“, führt er in dem Beitrag aus. „Da die Kirchen an Einfluss verloren haben, müssen andere Instanzen moralische Grundsätze aufrecht erhalten.“ Das Schema von Gut und Böse finde sich in der Ernährung wieder. So werde etwa Zucker als gefährlich dämonisiert, ohne dass es wissenschaftlich durch Studien bewiesen sei, dass er übergewichtig mache, zu Diabetes und einem frühen Tod führe. „Trotzdem dämonisieren wir, damit wir einen Feind, das Böse, den Teufel haben. Wir können auf den Teufel nicht verzichten“, meint Klotter.
Der Gedanke von einer Apokalypse spiele ebenfalls mit in Ernährungsweisen hinein, insbesondere bei Veganern. Das Essen biete das Versprechen, dass eine Klimakatastrophe, der Welthunger oder Gesundheitsrisiken durch eigene Anstrengung minimiert werden könnten, erklärt der Theologe Funkschmidt. Wenn alle Menschen vegan lebten, könnte das Klima gerettet werden, laute eine verbreitete Auffassung. „Wenn ich die drohende Apokalypse wenden will, muss ich bestimmte Bußleistungen vollbringen“, erklärt er die Idee dahinter.
Wer auf die Gnade Gottes nicht mehr hoffen könne, müsse sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, fasst der Beitrag diese Haltung zusammen. Die Ernährungsweise könne zur Lebensweise und zur Ersatzreligion werden. Sie gebe Orientierung und Sinn in einer unübersichtlichen Welt.
Das aktuelle Funkkolleg von HR-Info läuft seit Dezember vorigen Jahres. In insgesamt 23 rund 25-minütigen Beiträgen geht es um verschiedene Aspekte von Ernährung. „Zwischen Steak und Sünde – Ernährung als Religion“ wird am 24. Februar um 20.35 Uhr ausgestrahlt und ist, wie auch die anderen 13 bisher erschienen Folgen, online abrufbar. Schon in einer früheren Folge ging es um eine Frage mit religiösem Bezug: „Ist Essen wegwerfen eine Sünde?“ Darin erklärt der katholische Moraltheologe Michael Rosenberger, dass Lebensmittel aus christlicher Perspektive eine Gabe des Schöpfers sind. Mit diesem Geschenk sollte der Mensch achtsam und sorgfältig umgehen.
Von: Jonathan Steinert