Die Pränataldiagnostik macht medizinisch einiges möglich. Doch wo liegen ihre Grenzen? In der Zeit-Beilage Christ und Welt diskutieren zwei Autoren, ob Eltern bereits vor der Geburt über ihr zukünftiges Kind alles wissen dürfen und sollen.
Von PRO
Foto: Neufeld Verlag
Haben Kinder mit Down-Syndrom bald Seltenheitswert? Durch die Pränataldiagnostik brechen immer mehr werdende Eltern die Schwangerschaft ab
„Nein“, meint Gitta List, Chefredakteurin des Bonner Stadtmagazins „Schnüss“, zur Frage, ob Eltern schon vor der Geburt alles über ihr Kind wissen sollten. Sie ist Mutter von vier Kindern, darunter einem geistig behinderten Sohn. Zudem unterstützt sie das Magazin Ohrenkuss, das von Menschen mit Down-Syndrom gemacht wird.
Club der Unvollkommenen so groß wie die Menschheit
Wird während der Schwangerschaft Trisomie diagnostiziert, entscheiden sich mittlerweile 80 Prozent der Eltern für den Abbruch der Schwangerschaft. Die Diagnose ist durch einen Bluttest möglich, der während der Schwangerschaft „körperliche Auffälligkeiten“ feststellt. Damit würden Menschen „taxiert, definiert oder abqualifiziert“, moniert List. Dabei sei der „Club der Unvollkommenen“ so groß wie die Menschheit selbst.
Den Klassifizierungen liege eine Willkür zugrunde, auf deren Grundlage Leben als „lebenswert“ oder als „nicht lebenswert“ eingestuft werde. Selektion werde mit dem Bluttest, der 800 Euro koste, zum Geschäftsmodell, bedauert die vierfache Mutter. „Unsere Gesellschaft hat sich entschieden, diese Tests zuzulassen“, heißt es dagegen von Firmen wie LifeCodexx, die diese Tests anbieten. Sätze wie „Risiken zu minimieren, Unversehrtheit zu maximieren“ stünden in den Werbetexten der Firmen.
Mut zur Demut
List wünscht sich, dass die Menschen dem Unerwarteten mit „Mut zur Improvisation und zur Demut“ begegnen. Wenn die Gesellschaft Unversehrtheit als Maßgabe für die Wirklichkeit durchsetze, bringe dies der Welt „keinen Segen, sondern den Fluch eines Zwangsapparats normierter Funktionstüchtigkeit“. Die Gesellschaft dürfe nicht zulassen, dass es nur noch normierte Kinder gebe, weil es den anderen an der Existenzberechtigung mangele. Wenn Gesellschaft den Wert des Lebens der medizinischen Industrie anvertraue, dann „sollten wir uns vom Gedanken der Inklusion verabschieden.“ Dann würden auch Stimmen, wie die der Ohrenkuss-Redaktion bald verstummen.
Anders sieht das der Journalist und Autor Carsten Otte der in seinem neuen Roman „Warum wir“ ein Ehepaar beschreibt, das ein behindertes Kind erwartet. Pränatale Untersuchungen beeinflussen aus seiner Sicht das Leben der Eltern, den Fortgang der Schwangerschaft und die Zukunft des Kindes maßgeblich. Viele Ängste würden sich in die Seele der Eltern einschreiben und „nahezu unmenschliche Situationen“ auslösen.
Ungerecht und überheblich
Wer über Leben, Leiden und Tod des eigenen Kindes zu entscheiden habe, „wird zu einer sehr individuellen Entscheidung kommen“, sagt Otte. Eltern, mit denen er nach der Pränataldiagnostik gesprochen habe, seien mit unterschiedlichen Ergebnissen zurückgekehrt, aber alle würden diese Methode bei kommenden Schwangerschaften wieder wählen. Otte plädiert nicht dafür, „eine Medizintechnik zu verteufeln, die in der Welt ist. Es ist ungerecht und überheblich, Ärzte zu kritisieren, wenn sie die Technik auf Wunsch der Eltern anwenden. Es ist gemein, Paare an den Pranger zu stellen, die sich für den einen oder anderen Weg entschieden haben“.
Zur Perfektion gedrängt
Welch gravierende Folgen pränatale Untersuchungen haben können, zeigt sich zurzeit in Dänemark. Dort hat sich seit der Einführung der Untersuchungen die Zahl der Neugeborenen mit Down-Syndrom binnen eines Jahres halbiert. Dänemark könnte den Nullpunkt bald erreichen. Lilian Bondo von der dänischen Hebammen-Vereinigung versucht dies so zu erklären: „Ich denke, dass die Eltern durch viele Faktoren zur Perfektion gedrängt werden.“ (pro)
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