Einmal „Moral to go“ bitte!

Haben die so genannten Moralapostel Hochkonjunktur in Deutschland? Gibt es eine neue Moral vom Fließband? Aus Sicht des "Cicero"-Autoren Reinhard Mohr produzieren die "Apostel des Guten, Wahren und Schönen" in der Öffentlichkeit jedenfalls unermüdlich den Stoff, "nach dem die Erregungsgesellschaft" lechzt.
Von PRO



In der aktuellen Ausgabe der Monatszeitschrift "Cicero" beschäftigt sich Mohr auf fünf Seiten intensiv mit dem Moralbegriff. Der Journalist und Buchautor bilanziert, dass die Paraderolle der großen Moralisten seit jeher eigentlich dem deutschen Großschriftsteller-Wesen als "intellektuellem Mahner und Warner" zugekommen sei. Von ihnen halte aber derzeit lediglich noch Günter Grass die Wacht.



Stattdessen seien Menschen wie der "Freizeitpastor" Peter Hahne behilflich, einer ausufernden Spaßgesellschaft ins Gewissen zu reden. Aber auch die frühere EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann helfe mit ihren Büchern und ihrer Sehnsuchtstheologie "beim Hinfühlen zu Gott": "Politische Ambivalenzen haben hier keinen Platz, und wenn sie doch einmal kurz aufblinken, werden sie gleich wieder eingedampft in die Kalenderweisheit des Wellness-Protestantismus, niemand könne tiefer fallen als in die Hand Gottes", schreibt Mohr.

Verlust des nüchternen Urteilsvermögens



Dem langjährigen "Tagesthemen"-Moderator und Autor des "Buchs der Tugenden", Ulrich Wickert, wirft der "Cicero"-Autor vor, "Erhabenes und Alltägliches ebenso zwanglos wie beliebig zu verbinden". Allerdings leide Wickerts Wertewelt darunter, dass sie "wie ein großer Luftballon völlig losgelöst über dem schmutzigen irdischen Treiben existiert". Unbeantwortet lasse Wickert auch die von ihm aufgeworfene Frage, warum "bis heute der Ehrliche am Ende doch wieder der Dumme ist".

Einen moralischen Dauerstau verursache zudem die Vielzahl der Talkshows im deutschen Fernsehen. Dabei bilanziert Mohr: "Wenn Norbert Blüm, Heiner Geißler oder Gregor Gysi über Bankenmacht, Altersarmut oder Leiharbeit reden, schwillt ihnen binnen Sekunden der Hahnenkamm des krähenden Rechthabers." Leider werde in dem Moment, in dem "das schwache Lichtlein eines Diskurses" aufflackere, ein Betroffener zum Einzelgespräch gebeten, was dazu führe, dass das unmittelbar vorgeführte Elend, "jede ernsthafte Diskussion, die zwangsläufig über den Einzelfall hinausgehen muss, als kalt, herzlos und zynisch erscheinen lassen muss".

Infantile Lust am eigenen Bauchnabel


Gleichzeitig gebe es am Moralstandort Deutschland den anderen Pol, den Mohr als "eine infantile Lust am eigenen Bauchnabel" bezeichnet. Eine teilweise kritiklose Anbiederung an die Piraten verrate auch viel über den "Verlust des nüchternen Urteilsvermögens". In der deutschen Geschichte gab es aus Mohrs Sicht klare moralische Grenzen. Im "roten Jahrzehnt" wurden jene moralisch an den Pranger gestellt, die auch nur leise Zweifel an der Richtigkeit des "Konzepts Stadtguerilla" äußerten. Später seien mit Endlagerung, Waldsterben und Klimawandel neue und andere Herausforderungen auf den Moralstandort Deutschland zugekommen.



Dies sei auch die Ära kritischer Fernsehmagazine wie "Monitor", "Report" und "Panorama" gewesen, wo eine "ästhetisch eindrucksvolle Empörungskultur" verfeinert wurde. Aber bevor heute über eine Sache gesprochen werden kann, "setzten schon Reflexe eines proto-ethischen Reizreaktionsschemas" ein, so Mohr. Oft sei Reflexion überflüssig und das gute Gefühl zum Religionsersatz geworden. Moralische Positionen würden ohne weiteres Nachdenken bezogen.

Widerspruch zwischen öffentlicher und privater Moral


Der Politik-Kabarettist Andreas Rebers habe bilanziert, dass "nichts so leicht herzustellen ist, wie moralische Empörung". Rebers betont: "Eigentlich läuft das wie in der Kirche. Es wird mit Schuld und schlechtem Gewissen gehandelt und das solidarische Lachen ist er Ablass. Danach wird das moralische Hochgefühl beim Italiener mit Chianti begossen."

Für Michael Reder. Inhaber des Lehrstuhls für praktische Philosophie in München, ist die Hochkonjunktur der Moral die "Antwort auf die Komplexität gesellschaftlicher Probleme": Immer häufiger erwarteten die Zuhörer auch von ihm als Wissenschaftler eine "normative Take-Home-Message" – eine Moral zum Mitnehmen: "Was früher Pfarrern vorbehalten war, wird nun auch von uns Ethikern verlangt."

Die Frage, warum dies in Deutschland so ausgeprägt sei, beantwortet Reder mit einer "Sehnsucht nach Konsens und Harmonie" gepaart mit einer "eigenartigen Widersprüchlichkeit zwischen öffentlich geforderter und privat gelebter Moral: "Dort das Verlangen nach absoluter Ehrlichkeit und Transparenz, hier die kleine Steuerhinterziehung und der schwarz bezahlte Heimwerker." (pro)

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