Eine trostlose Freiheit?

Das Lossagen der modernen Gesellschaft von Gott und Gemeinschaft bringt der Gesellschaft eine große Freiheit, aber auch eine genauso große Trostlosigkeit. Zu diesem Ergebnis kommt der Sozialwissenschaftler und Theologe Reimer Gronemeyer in einem Gastbeitrag im "Tagesspiegel".
Von PRO

Der moderne Mensch, so der Wissenschaftler, fühle sich durch religiöse Bindungen und kollektive Zwänge zunehmend beengt. Dies führe zu einer Säkularisierung und radikalisierten Individualisierung. Dadurch, dass Familie, Bildung, Beruf, Gesundheit und Alterssicherung selbst in die Hand genommen würden, "erwächst eine Überlastung des Individuums, das immer und unablässig zum Schmied des eigenen Glückes werden muss", schreibt Gronemeyer.



Dem Tempo der Gesellschaft nicht mehr gewachsen



Als Beispiele für Menschen, die besonders drastisch dem Tempo der heutigen Gesellschaft nicht mehr gewachsen sind, benennt Gronemeyer Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) und Alte mit Demenz. Sich von anderen Menschen die Psyche coachen, die Altersversorgung organisieren und die Kinder ausbilden zu lassen, könne man als Ersatz für religiöse und soziale Einbindungen werten: "Gesundheits-Prävention ersetzt die Hoffnung auf das Jenseits, die Alters- und Pflegeversicherung löst familiäre Netze ab."



Es könne kein Zweifel darüber bestehen, dass eine Gesellschaft, die so auf "Konkurrenz, Leistungsfähigkeit, Flexibilität und Geld hin orientiert sei wie die unsere, Pflegebedürftige … eigentlich als belastende Außenseiter ansehen muss". Durch Säkularisierung und Individualisierung sei "auch die Einbindung des Einzelnen in ein familiäres Woher und Wohin, in einen sozialen und kulturellen Zeitzusammenhang" verloren gegangen. Die eigene Asche werde anonym verstreut, das menschliche Leben habe keine Transzendenz und deshalb spiele etwa die Entscheidung für den Suizid auch nur für das Individuum selbst eine Rolle: "Sie ist nicht vor Gott, den Göttern, den Ahnen oder anderen Instanzen zu verantworten", so Gronemeyer.



Quasi priesterliche Funktion der Mediziner



Die "quasi priesterliche Funktion der Mediziner" lege es nahe, dass Anfang und Ende des Lebens endgültig in ihre Hände geraten seien. Die "letzte Ölung" des Priesters habe noch dazu beigetragen, über den Tod zu sprechen. Heute werde diese Funktion weitgehend durch die Medizin erfüllt, "die jeden am Sprechen hindert, indem sie ihn mit Pflege und Betreuung überhäuft. Ein infantiler Tod, der nicht mehr spricht, ein unartikulierter, überwachter Tod." Gronemeyer sieht in der laufenden Diskussion einen "letzten Angriff auf das sich autonom dünkende Individuum".



Der Wissenschaftler hat zunächst Theologie studiert und nach seiner Promotion als Pfarrer in Hamburg gearbeitet. Danach absolvierte er ein Soziologie-Studium. Ab 1975 lehrte der Emeritus als Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Ehrenamtlich engagiert er sich bei "Aktion Demenz: Gemeinsam für ein besseres Leben" und in der Hospizarbeit. (pro)

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