Eine Schule zum Computer spielen

Computerspiele gehören zur Lebenswelt von Jugendlichen dazu. Deswegen sind sie auch ein wichtiges Thema in der Forschung. Ein Modellprojekt, um Medienkompetenz mit Hilfe von Computerspielen zu vermitteln, ist die ComputerSpielSchule in Greifswald.
Von PRO
Computer spielen mit pädagogischer Anleitung und Unterstützung können die Kinder in der Computerspielschule Greifswald
Es ist Dienstagnachmittag. Luca, Simon und Robin stellen ihre Fahrräder vor der Stadtbibliothek in Greifswald ab. Mit ihren Schulranzen stürmen sie in den ersten Stock des Altbaus. Dort befindet sich der Raum der ComputerSpielSchule Greifswald (CSG). Auf dem Gebiet ist die sonst eher verschlafen wirkende 54.000-Einwohner-Stadt Vorreiter: Denn es gibt hier eine von zwei ComputerSpielSchulen in Deutschland. Unter wissenschaftlicher Anleitung spielen Kinder, Jugendliche und – im besten Fall – Erwachsene Computer und lernen, über die Inhalte der Spiele zu reflektieren. Ziel ist es, Jugendliche für Chancen und Risiken digitaler Spiele, Altersfreigaben und Cybermobbing zu sensibilisieren. Zudem forschen die Wissenschaftler zu religiösen Themen. Luca, Simon und Robin sind einige Minuten zu früh. Los geht es erst um 13.30 Uhr. Da machen die Verantwortlichen keine Ausnahme.

Minecraft ist der Renner

Die ehrenamtlichen Mitarbeiter sind schon da. Dann endlich öffnen sie die Tür. Zehn Computerplätze stehen zur Verfügung. Die Kinder melden sich bei einem Mitarbeiter an und äußern ihren Spielwunsch. Jeder darf zwei Stunden spielen. An jedem der Rechner läuft schon ein paar Minuten später Minecraft. Bei dem Spiel bauen die Schüler aus würfelförmigen Blöcken ihre eigene dreidimensionale Welt auf. Sie können ohne vorgegebenes Ziel kreativ sein. Minecraft ist zurzeit der Renner bei den Jugendlichen. Die Stadtbibliothek haben die Initiatoren der ComputerSpiel-Schule bewusst als Ort gewählt. Die Besucher haben dort weniger Berührungsängste als in universitären Räumen. Der Theologieprofessor Roland Rosenstock hat das Projekt ins Leben gerufen. Er musste anfänglich gegen heftigen Gegenwind kämpfen. Er schaffe Räume für Vielspieler und animiere sie dazu, noch mehr vor dem Rechner zu sitzen, lauteten die Vorwürfe. Der 48-Jährige ließ sich davon nicht unterkriegen. „Zur Lebenswelt der Jugendlichen gehören diese Spiele dazu“, erklärt er. Wann immer es Forschung und Lehre zulassen, ist er vor Ort. Jungs sind hier in der Überzahl. „Gerade sie brauchen Räume, wo sie Abenteuer erleben können und männlich sein dürfen“, sagt er. Zu „zocken“ gibt ihnen offenbar dieses Gefühl.

Mit Computerspielen nicht missionieren

Bei Fragen können sich die Kinder an medienpädagogisch geschultes Personal wenden, das ihnen auch neue Spiele empfiehlt. Eine Mitarbeiterin ist Iris Sura, die bei Rosenstock über die Religiosität in Computerspielen promoviert. „Es herrschen ungeschriebene Regeln und Normen in den Communitys vor, die ohne das Einwirken Erwachsener entstehen“, hat sie beobachtet. Rassis-tische Äußerungen oder Beleidigungen sind tabu und werden von den Mitspielern nicht geduldet. Rosenstock schaut sich Computerspiele als Teil der Jugendkultur, aber auch unter religiösen und ethischen Aspekten an. Es gebe ausreichend Forscher, die lediglich auf die Gefahren der Spiele verwiesen, nicht aber auf deren Nutzen. Der Kriminologe Christian Pfeiffer ist einer derjenigen, die immer wieder auf die Gefahren digitaler Medien und insbesondere von gewalthaltigen Computerspielen hinweisen. Rosenstock dagegen sagt: „Das sind immer Gefahren, die von außen auf Computerspiele projiziert werden.“ Pfeiffer habe vor allem die Grenzüberschreitung im Blick. Ihn selbst interessierten aber die 98 Prozent Jugendlichen, die nicht gewalttätig oder süchtig werden. Auch der Hirnforscher und Psychiater Manfred Spitzer ist kein Freund jugendlicher Computerspielfreuden. Die Spiele trügen zur Verdummung bei, lautet seine These. Dabei verlagere er den Konflikt in die Elternhäuser, wenn er von Vätern und Müttern verlange, ihre Kinder vom Computer fern zu halten, sagt Rosenstock: „Spitzers Erziehungsbild möchte ich einmal als Astrid-Lindgren-Kindheit bezeichnen.“ Das sei aber nicht mehr aktuell: „Jugendliche wachsen heute anders auf als ihre Eltern und erleben ihre Abenteuer und Herausforderungen eben in der digitalen Welt.“ Rosenstocks wissenschaftliche Mitarbeiterin Anja Schweiger beobachtet, dass Erwachsene die Faszination von stundenlangen Computerspielen oft nicht nachvollziehen können. „Die Jugendlichen genießen die Zeit am Rechner. Sie haben Erfolgserlebnisse, können eine Machtposition einnehmen, werden herausgefordert und haben Spaß.“ Hier fänden sie ein offenes Ohr und die Akzeptanz für ihr Hobby. Zu Konflikten zwischen Jung und Alt komme es immer dann, wenn Eltern das Interesse ihrer Kinder nicht ernst nehmen: „Manchmal urteilen Erwachsene über Spiele, ohne sie zu kennen.“ Die ComputerSpielSchule möchte eine Brücke zwischen den Generationen bauen. Dazu gibt es auch Großeltern-Enkel-Tage oder Veranstaltungen für die ganze Familie. Erwachsene sollen dabei selbst Computerspiele ausprobieren und lernen, was es damit auf sich hat, um ihre Kinder kompetent begleiten zu können. Schweiger glaubt, dass viele Jugendliche zur ComputerSpielSchule kommen, um sich mit anderen auszutauschen zu können: „Hätten sie so eine Plattform in der Familie, gäbe es weniger Konflikte.“ Der Trend ist eindeutig: 1,47 Milliarden Euro Umsatz hat die Computerspiel-Industrie im vergangenen Jahr erzielt. Damit liegt sie höher als die Filmindustrie. Vor allem die Spiele im Shooter-Bereich lassen sich gut vermarkten. Dies sei aber kein Indiz dafür, dass Töten für junge Menschen ein wichtiges Thema sei. Die Pädagogen wollen Präventionsarbeit leisten, die Jugendlichen über Gefahren aufklären und ihnen Medienkompetenzen vermitteln. In Greifswald geschieht dies durch eine Spieletester-Gruppe, in der Kinder zwischen 10 und 15 Jahren Spiele testen und kritisch reflektieren sollen. Computerspiele verstärken aus Rosenstocks Sicht Gewaltbereitschaft nur in den Bereichen, in denen Jugendliche ohnehin Gewalterfahrungen machen. Mit Meldungen über 15 Millionen Computerspielsüchtige in Deutschland kann der Greifswalder Forscher nicht viel anfangen. Natürlich gebe es exzessives Computerspielverhalten, aber man könne nicht von Sucht sprechen, nur weil ein Hobby zeitintensiv sei. Bei begeisterten Fußballspielern spreche auch niemand von einer Fußballsucht. Das, was die Vereine früher für die soziale Entwicklung von Jugendlichen geleistet hätten, verlagere sich nun ins Internet: „Minecraft gibt den Jugendlichen die Möglichkeit, sich kreativ auszuleben. Aber sie reflektieren wenig darüber. Diese Chance wollen wir ihnen bieten.“ Mit seinen Studenten untersucht Rosenstock sogenannte God-Games, in denen die Spieler sich in die Rolle von Gott versetzen können. Bei „Herr der Ringe“ oder „World of Warcraft“ muss sich der Akteur einer der fünf Weltreligionen zuordnen. „Herr der Ringe“ speise sich stark über christliche Verhaltensweisen und zum Teil auch buddhistische Regeln. Die Wissenschaftler interessiert vor allem die Rolle des Avatars. Mit diesem virtuellen Stellvertreter können die Spieler eine Rolle ausprobieren, die Transzendenz ermöglicht. Teilweise werden auch biblische Gestalten wie Mose, die Propheten oder Motive wie das himmlische Jerusalem als Avatar verwendet. In manchen Spielen werden Figuren getauft, betreten sakrale Räume, nehmen am Abendmahl teil oder verfügen über Heilungskräfte. „Hier können Pfarrer oder Lehrer biblische Geschichten erzählen, die für das Leben der jungen Menschen relevant werden können“, sagt Rosenstock. Gerade Menschen aus nicht-religiös geprägten Familien sind für die Forschung interessant. „Wenn christliche Pädagogen und Theologen diese Spiele gezielt einsetzen, können sie zeigen, dass sie sich für die Jugendlichen und ihre Lebenswelt interessieren.“

Gott bringt sich selbst ins Spiel

Gute Computerspiele leben aus Rosenstocks Sicht von guten Erzählungen: „Christen haben ihre großen Erzählungen in der Bibel. Die wichtigste ist, dass Gott sich mit Jesus Christus selbst ins Spiel bringt. Christus ist der Avatar Gottes, indem er an Weihnachten als Kind zur Welt kommt, durch die Taufe seinen Auftrag erhält und sich mit seinen Gefährten zum Ort der Entscheidung auf den Weg macht. Auf der Reise müssen Prüfungen bestanden werden und Menschen werden durch seine besonderen Kräfte geheilt. In Jerusalem wird er hingerichtet, doch erst mit der Auferstehung zeigt sich seine wahre Gestalt: Der Erlöser hat die Welt gerettet und wird in den Himmel zurückteleportiert.“ Viele Erzählungen in Computerspielen folgen einem ähnlichen Muster. Darüber könne man mit den Heranwachsenden ins Gespräch kommen. Luca, Simon, Robin und die anderen Kinder genießen die Zeit in der ComputerSpielSchule. Sie feiern Erfolgserlebnisse lautstark. Dabei vergeht die Zeit wie im Flug. Obwohl sich die Spielschule an alle Generationen richtet, trifft man die Eltern an diesem Nachmittag nur, wenn sie ihre Kindern abholen. Denen ist die wissenschaftliche Theorie egal. Sie freuen sich auf die Praxis – und werden wohl auch übermorgen wieder überpünktlich vor der Tür der ComputerSpielSchule stehen. (pro)
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