Ein neues Buch rüttelt auf: „Deutschlands sexuelle Tragödie“

Für viele Heranwachsende hat Sexualität nichts mehr mit Partnerschaft oder Liebe zu tun. Durch schnellen Sex versuchen sie die innere Leere zu füllen, immer auf der Suche nach ein wenig Nähe und Bestätigung. In "Deutschlands sexuelle Tragödie" beschreiben die Autoren Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher von dem Berliner Kinderhilfswerk "Arche" den Kreislauf, der sich bei Heranwachsenden von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt in Gang gesetzt hat. Das Buch wurde am Mittwoch in Berlin vorgestellt.
Von PRO

Von Ellen Nieswiodek-Martin

Jessie war 12 Jahre alt, als sie zum ersten Mal mit einem Jungen geschlafen hat. „Der war voll süß und nur ein Jahr älter als ich“, erinnert sie sich. Heute ist Jessie 17 Jahre alt – und braucht Sex wie die Luft zum Atmen. Wenn sie drei oder vier Tage keinen Verkehr hatte, sucht sie sich einen Jungen, mit dem sie schon einmal im Bett war. „Ich habe schon mit 51 Jungs geschlafen“, erzählt Jessie freizügig. Auch ihre Mutter wechselt. Mutter und Tochter führen ein gemeinsames Tagebuch über ihre sexuellen Erlebnisse. Sie hatten sogar schon einmal gemeinsam Sex mit zwei Jungs von 15 und 17 Jahren. Das hatten die beiden Frauen vorher in einem Porno gesehen.

Die Geschichte von Jessie ist nur eines von 31 Schicksalen, die Wolfgang Büscher und Bernd Siggelkow in ihrem Buch Deutschlands sexuelle Tragödie“ erzählen. Sie greifen damit ein Tabu-Thema auf, über das bisher in Deutschland kaum geredet wird. Die Autoren erzählen von Kindern, deren Alltag von Sex geprägt ist und Eltern, die keine Schamgrenzen kennen – weil sie es oft selbst nicht anders kennen. Im Buch geht es um Mädchen und Frauen, für die es wichtiger als alles andere ist, sich von Männern „begehrt“ zu fühlen. Für sie hängt ihr Wert davon ab, ob und wie stark sie vom anderen Geschlecht begehrt werden. Junge Mädchen lernen von ihren Müttern, dass ihr Körper ihr wertvollstes Kapital sei. Die Bestätigung, die sie mit ihrem Körper bekommen, haben sie weder in der Schule noch zuhause gefunden. Oft sind die Mädchen stolz auf die vielen Sex-Partner, so, als ob es sich dabei um Trophäen handelt. Sexualität hat weder etwas mit Gefühlen, noch mit Partnerschaft oder Beziehung zu tun. Zum Sex gehören bei den meisten jungen Leuten auch reichlich Alkohol und Drogen dazu. „Deutschlands sexuelle Tragödie“ erzählt auch Geschichten von Müttern, die sich lieber als Freundinnen ihrer Kinder sehen, statt erzieherische Aufgaben wahrzunehmen. Die mit den Freunden ihrer Söhne Verkehr haben und in deren Leben häufig wechselnde Partner Normalität sind.

Es geht auch um junge Männer wie den 22-jährigen Chris, der bei dem allein erziehenden Vater aufgewachsen ist und erlebte, dass sein Vater kein Interesse an ihm zeigte. Chris hat ständig neue Freundinnen, aber sobald eine mehr als Sex von ihm will, beendet er die Beziehung. Der 16-jährige Alex prahlt damit, schon mit mehr als 80 Mädchen geschlafen zu haben. Allerdings muss er sich vor dem Sex immer mit Pornofilmen „antörnen“ wie er sagt, sonst klappt es nicht mehr.

„Reden und Handeln von Jugendlichen und Kindern sind geprägt durch die Bilder, die in Massen auf sie einströmen.“

Es geht auch um kleine Jungen wie beispielsweise Viktor, der schon mit fünf Jahren zuhause den ersten Pornofilm geschaut hat. Heute, mit acht Jahren, ist er extrem verhaltensauffällig. Er fasst andere Kinder und Erwachsene an den Geschlechtsteilen an, seine Ausdrucksweise ist geprägt durch sexistische Wörter. Seine Mutter findet nichts dabei, den Jungen Pornos sehen zu lassen, denn es gehe in den Filmen „ja nur um Sex“. „Je weiter meine Mitarbeiter und ich in die Welt der Kinder und Jugendlichen, die wir in der Arche kennenlernen, eintauchen und je mehr Gespräche wir mit ihnen und ihren Eltern führen, desto betroffener sind wir“, schreibt Siggelkow. „Bei vielen Minderjährigen hat sich das Spielverhalten extrem verändert. Ihr Reden und Handeln sind geprägt durch die Bilder, die in Massen auf sie einströmen. (…) Da mittlerweile in fast jedem Wohnzimmer ein Fernseher und in vielen Kinderzimmern ein Computer steht, werden wir dem sexuellen Wahnsinn kaum noch Einhalt gebieten können.“

Die Sätze von Pastor Siggelkow lesen sich wie eine Resignation – doch aufgeben will er nicht, sondern aufklären und ein unangenehmes Thema öffentlich machen. „Die Welt der ‚harten‘ Bilder verändert ihr Denken. Sie wissen nichts mehr über Zärtlichkeit, Liebe und Zweisamkeit, kennen nur den schnellen Sex. Sie sehnen sich nach dauerhaften erfüllenden Beziehungen – und haben keine Ahnung, wie diese gelebt werden könnten. Meist kennen sie niemanden, der mehrere Jahre mit demselben Partner zusammen ist.“ Die Kinder, von denen in diesem Buch die Rede ist, haben von den Eltern weder Zärtlichkeit noch Geborgenheit erfahren, haben niemals erlebt, dass man füreinander da ist. Gelernt haben sie, wie man Leere mit Sex füllen kann. Nicht zuletzt ist Sex auch eine Freizeitbeschäftigung, die sie sich leisten können. Ein wichtiges Argument, wenn man von Hartz IV leben muss. Siggelkow und Büscher sehen das Sexualverhalten als Spiegel der Gesellschaft. Frühe Konfrontation mit dem Thema Sex zuhause und häufig auch der Konsum von Pornografie in den Medien schädigen die Seelen der Kinder nachhaltig. Für die Autoren liegt es auf der Hand, dass die „um sich greifende sexuelle Verwahrlosung in unserem Land in den nächsten Jahren zu einer Zunahme von psychischen Erkrankungen führen wird“.

Wohlstandsverwahrlosung: Wenn Eltern nicht in der Lage sind, ihren Kindern Wärme und Geborgenheit zu schenken

Lebensberichte wie die von Jessie, Chris und anderen machen allerdings deutlich, dass emotionale Verwahrlosung nicht nur ein Problem der so genannten Unterschicht ist. Viele Kinder sind materiell und geistig bestens versorgt, aber es fehlt die emotionale Nähe. Siggelkow und Büscher nennen es Wohlstandsverwahrlosung, wenn Eltern nicht in der Lage sind, ihren Kindern Wärme und Geborgenheit zu schenken. Der Übergang von emotionaler zu sexueller Verwahrlosung ist fließend. Junge Menschen empfinden ein Vakuum, eine Leere und versuchen sie mit Sex zu füllen.

Büscher und Siggelkow sind davon überzeugt: Je mehr Sex in den Medien vorkommt, je aufgeklärter und freizügiger unser Land wird, desto weniger reden Erwachsene mit ihren Kindern über Sex. Ihrer Ansicht nach werden in Zukunft viele Betreuer gebraucht, die die Probleme von jugendlichen Opfern und Tätern auffangen und begleiten können. Nach Siggelkows Ansicht sind drei Faktoren notwendig, damit junge Menschen ein festes Fundament für das Leben bekommen: Werte, Bildung und Geborgenheit.

Das Buch endet mit einem Ausblick in die Zukunft: „Wenn in zehn Jahren Tausende von Erwachsenen in unserem Land leben, die alle Formen der sexuellen Perversion ‚durchhaben‘, deren Seelenleben aber auf der Strecke geblieben ist, dann werden wir unser Handeln bzw. Nichthandeln in der Vergangenheit verurteilen. Wäre es nicht besser, wenn wir heute handeln?“

Das Fazit der Autoren lautet: „Unser Land braucht Erwachsene, die in der Lage sind, mit ihren Kindern über alles zu reden – ohne Tabus -, und die lieben können, weil sie Liebe erfahren haben.“ (PRO)

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