„Ein Cent mehr pro T-Shirt würde helfen“

Neben Bangladesch ist Kambodscha einer der lukrativsten Produktionsstandorte für die Textilindustrie. Doch die Bedingungen für die Näherinnen von H&M und Co. sind oft menschenunwürdig. Dabei wäre es gar nicht so schwer, bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen.
Von PRO
Die Kleinst-Arbeiten werden im Slum erledigt, zum Beispiel das Fäden abschneiden. Wer schnell ist, kommt auf einen Dollar pro Tag
Einer, der mit eigenen Augen gesehen hat, wie Textilarbeiterinnen in Kambodscha um ihre Existenz kämpfen, ist Gerhard Wiebe, Referent für die Sozial Missionarische Arbeit des Deutschen Jugendverbands „Entschieden für Christus“ (EC) und leitet dort die EC-Indienhilfe. Von 2006 bis 2013 lebte und arbeitete er mit seiner Familie in Kambodscha. Für die Überseeische Missions-Gemeinschaft (ÜMG) führte er dort Bildungsprojekte durch. Lange Zeit war er auch in der Hauptstadt Phnom Penh stationiert. Er bekam zu Gesicht, was selten nach außen dringt: Während in den Fabriken Näherinnen angestellt sind, leisten die Bewohner der Slums die Kleinst-Arbeiten. „Die Hosen wurden in den Slum gebracht und die überstehenden Nähte von den Leuten dort abgeschnitten.“ Oft müssten auch die Kinder mit anpacken. „Viele Kinder haben kaum eine Chance für ihr Leben“, sagte Wiebe. Sie versuchten zwar, zur Schule gehen. Um das Überleben der Familie zu sichern, müssten sie jedoch oft darauf verzichten. „Eine Frau hat mir erzählt, wenn sie sich beeilt und viel schafft, kommt sie auf einen Dollar pro Tag“, erzählt Wiebe. Das sind etwa 4.000 Kambodschanische Riel. Zum Überleben reicht das kaum: „Für ihre Hütte im Slum auf einem Dreckwasserkanal zahlen viele hohe Mieten von 20 bis 30 Euro.“ Umgerechnet sind das 100.000 bis 160.000 Riel.

Arbeiten bis zum Umfallen

Insgesamt sind etwa 500.000 kambodschanische Frauen in der Textilindustrie tätig, die Arbeiter im Slum nicht mitgerechnet. Sie nähen für H&M, Puma, Abercrombie & Fitch oder Hollister. Gap, der größte amerikanische Bekleidungseinzelhändler, ist besonders stark vertreten. „Mich hat schockiert, dass auf den Labels H&M stand“, erzählt Wiebe von seinen Beobachtungen im Slum von Phnom Penh. „Das sind Produkte, die wir gerne tragen. Wir machen uns oft gar keine Gedanken, wer die Kosten dafür trägt.“ Die Frauen, die in den Produktionsstätten angestellt sind, arbeiteten sechs oder sieben Tage die Woche und verdienten oft nur den offiziellen Mindestlohn von 60 Dollar, knapp 240.000 Riel. Davon könne man in Kambodscha aber nicht überleben, sagte Wiebe. Viele Arbeiterinnen wohnten deshalb eingeengt zu vielen in kleinen, dunklen Räumen.

Hunger, Überstunden und Giftstoffe

Im Januar 2013 gingen viele Näherinnen auf die Straße, um für höhere Löhne zu demonstrieren. Sie forderten eine Bezahlung von 160 Dollar, etwa 630.000 Riel. Das sei die berechnete Untergrenze, um das Existenzminimum in Kambodscha zu sichern, heißt es in einem Artikel der Non-Profit-Organisation RH Reality Check. Das Militär schlug die Proteste jedoch blutig nieder: Vier Arbeiterinnen wurden erschossen, eine Person angeschossen. Sie gilt seitdem als vermisst. 30 weitere Demonstrantinnen wurden verletzt und 23 festgenommen. Das zeige, dass der Staat nichts gegen die Ausbeutung in der Textilindustrie tue, sagt Wiebe. Im Gegenteil: Die Firmen müssten keine fairen Bedingungen einhalten. Die westlichen Partner bevorzugten zudem flexible Verträge, berichtet RH Reality Check. Oft würden deshalb nur noch Kurzzeitverträge geschlossen. Das führe unter anderem dazu, dass viele Arbeiterinnen unprofessionelle Abtreibungen vornehmen ließen aus Angst, nach Ablauf ihres Arbeitsvertrages keinen neuen zu erhalten, weil sie schwanger sind. Zu den ungenügenden Löhnen kommen außerdem schlechte Arbeitsbedingungen. Mangelhafte Ernährung, lange Arbeitszeiten, schlechte Belüftung und schädliche Chemikalien seien ein Grund dafür, dass in den vergangenen Jahren Tausende Näherinnen während der Arbeit in Ohnmacht fielen.

Massenpanik und unausgesprochene Ängste

Einen anderen Grund für diese Massenkollabierungen beschreibt ein Artikel der Tageszeitung The Cambodia Daily. Viele Arbeiterinnen, die entweder selbst kollabierten oder es bei ihren Kolleginnen erlebten, glaubten daran, von bösen Geistern besessen zu sein. Nach einer buddhistischen Zeremonie, die den bösen Geist beschwichtigen sollte, sei keine der Arbeiterinnen erneut in Ohnmacht gefallen, beschreibt der Artikel ein Ereignis in einer Firma in der Provinz Kompong Speu. Ähnliche Vorfälle seien bereits zur Zeit der Industriellen Revolution in englischen Produktionshallen aufgetreten. Damals habe man zunächst giftige Stoffe in der Baumwolle für die Ohnmachtsanfälle verantwortlich gemacht. „Nachdem ein Arzt den Arbeitern versicherte, dass die Baumwolle nicht gefährlich sei, hörten die Panikattacken auf“, heißt es. Das Phänomen sei auch als „Massenpsychogene Krankheit“ (MPI) bekannt. Auch wenn die hygienischen Bedingungen in der kambodschanischen Produktion oft unzureichend seien und Näherinnen giftige Gase einatmeten, könne in einigen Fällen auch MPI ein Grund für die hysterischen Ohmnachtsanfälle sein. Die Erkrankung symbolisiere das, was die Arbeiterinnen nicht offen aussprechen könnten, zum Beispiel Rebellion gegen die Arbeitsverhältnisse und Angst vor schädlichen Stoffen. „Sie können nicht einfach hinausgehen, wenn sie mit den Arbeitsbedingungen unzufrieden sind, oder sie riskieren es, entlassen zu werden. Doch sie brauchen das Geld, also bleiben sie“, zitiert The Cambodia Daily den Psychologieprofessor Robert Bartholomew.

„Made in Cambodia“ vermeiden

Wiebe fügte hinzu, dass es in Kambodscha viel Missionsarbeit gebe. Spezielle Projekte, die sich für bessere Bedingungen in der Textilindustrie einsetzen, gebe es aber kaum. Die meisten Missionsorganisationen vor Ort seien amerikanisch geprägt mit dem Ziel, Gemeinden zu gründen: „Überwiegend herrscht die Meinung: Wenn die Leute Jesus haben, haben sie alles.“ Diese Begründung werde dafür angeführt, sich nicht im Bereich Textilindustrie einsetzen zu müssen, kritisiert Wiebe. Wer als Verbraucher auf faire Produktionsbedingungen seiner Kleidung wert legt, hat es nicht leicht. Oft ist nicht zu erkennen, wo einzelne Stücke produziert werden. Wiebe rät: „Wenn die Inschrift ‚Made in Cambodia‘ oder ‚Made in Bangladesh‘ sehe, versuche ich, es nicht zu kaufen.“ Außerdem empfiehlt er, in den Läden nachzufragen. Auch wenn viele Verkäufer wenig über den Herstellungsprozess wüssten, sei es wichtig, immer wieder nachzufragen, um es zum Thema zu machen. „Verbraucher und die Politik sollten auf internationale Sozialstandards setzen, damit sich die Lage nachhaltig verbessert“, sagt Wiebe. „Gerade westliche Importländer könnten durch eigene Standards in der Fertigung einen fairen Beitrag leisten, um ausbeuterische Arbeitsbedingungen zu unterbinden.“

Ungenügend für H&M und zero

Auch ein nur geringfügig höherer Verkaufspreis der Kleidung könnte etwas ändern. „Nur ein Cent extra für zum Beispiel ein T-Shirt zu bezahlen, würde helfen“, berichtet RH Reality Check. Fabrikbesitzer sollten zudem kleinere Anteile an den Profiten für sich in Anspruch nehmen. Eine Einschätzung, welche Unternehmen sozial und ökologisch produzieren lassen, gab die Stiftung Warentest im Jahr 2010. Sie testete 20 Anbieter von Damen-T-Shirts. Gut schnitten dabei unter anderem hessnatur, armedangels, C&A, Esprit oder Peek&Cloppenburg ab. Auf den letzten Plätzen landeten H&M, Mexx, NKD und zero. (pro)
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/micha-initiative-bessere-bedingungen-fuer-textilarbeiter-87966/
https://www.pro-medienmagazin.de/nachrichten/detailansicht/aktuell/christen-gegen-aldi-ausbeutung-zum-sparpreis-83397/
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/god-inspired-fashion-model-entwirft-christliche-mode-79815/
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