Ein Aussteiger berichtet: „Alle Kinder werden geschlagen“

Heute quälen ihn Albträume und Lähmungen. Die Dunkelheit kann er nur schwer ertragen, weil dann die Erinnerungen wach werden. Erst mit den Bildern eines RTL-Berichts ist ein jahrelanges Versteck- und Verwirrspiel ans Tageslicht gekommen. Die Süddeutsche Zeitung portraitiert in ihrer aktuellen Ausgabe zwei Aussteiger, die einen Großteil ihrer Kindheit in den Klauen der Sekte „Zwölf Stämme“ gefangen waren.
Von PRO

Dabei schildert der anonyme 17-jährige Aussteiger Peter ein System übelster Unterdrückung: Neben der systematischen Prügel würden die Kinder auch zur Kinderarbeit gezwungen. Sowohl dagegen als auch gegen die in der Sekte gehandhabte Beschneidung könnte das Gericht vorgehen, schreibt Süddeutsche-Redakteur Stefan Mayr.

Die Sekte selbst, die in den 70er Jahren in den USA gegründet wurde, sieht sich als Nachfolger der „Zwölf Stämme“ Israels. Sie lebt streng nach den Regeln des Alten Testaments, wozu eben auch die Züchtigung ihrer Kinder mit „der Rute der Korrektur“ gehört. Obwohl die deutsche Justiz durch einige Aussteiger und durch Medienberichte Hinweise auf das Gebaren der „Zwölf Stämme“ hatte, kam es nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Augsburg nie zu Anklagen, „weil sich die Taten nicht in einer ausreichenden Weise hatten konkretisieren lassen“.

Eine scheinbar friedliche Welt

Auf dem Areal in Klosterzimmern im bayerischen Landkreis Donau-Ries tauche man in eine „andere, scheinbar friedliche Welt“ ein. Am 5. September hatte die Polizei diese Mauer allerdings durchbrochen und – auf Grundlage der Bilder des eingeschmuggelten RTL-Reporters Wolfram Kuhnigk – gehandelt. Die Bilder zeigten, wie Mitglieder der Sekte ihre Kinder mit Weidenruten auf den nackten Po schlugen. Das Jugendamt brachte die Kinder zu Pflegefamilien und den Eltern wurde per Eilantrag das Sorgerecht entzogen: „Das war überfällig, solche Leute dürfen keine Kinder erziehen“, berichtet der zweite Aussteiger, der Adam genannt wird.

Er erzählt, dass Kinder mehr als zehn Stunden am Tag ohne Verdienst bei den „Zwölf Stämmen“ arbeiten mussten. Sie waren weder kranken- noch sozialversichert. Häufig mussten sie Solarmodule installieren. Interessant ist dabei, dass auf die Adresse in Klosterzimmern auch eine Firma zugelassen ist, die Photovoltaik-Anlagen installiert und deren Umsatzzahlen sehr gut sind.

Katz- und Maus-Spiel mit den Behörden

Aussteiger Peter bilanziert: „Sie labern über die Bibel, aber in Wahrheit ziehen sie die nächste Generation an Arbeitern heran.“ Dabei gehe es darum, den Willen des Einzelnen zu brechen. Mit den Behörden hat sich die Sekte schon längere Zeit ein „Katz-und-Maus-Spiel“ geliefert: Bußgelde wurden nicht bezahlt und ihre Kinder schickten sie auch nicht auf eine Regelschule. Die Schulausbildung der „Zwölf Stämme“ ist ein weiteres Reizthema. Die dortigen Lehrer haben nicht annähernd die nötige Qualifikation. Dies fiel erst im Mai 2012 bei einer unangemeldeten Kontrolle des bayerischen Kultusministeriums auf. Obwohl die Prügelvorwürfe schon länger existierten, habe es zuvor nur angemeldete Besuche der Beamten gegeben. Auch medizinisch herrschte bei den „Zwölf Stämmen“ Chaos: Für alle Behandlungen, egal ob Zahn- oder Hausarzt, sei immer dieselbe Person zuständig gewesen: ohne Approbation.

Der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, sieht darin keinen Einzelfall. „Je gläubiger die Eltern, desto häufiger prügeln sie ihre Kinder“, zitiert ihn die Süddeutsche Zeitung. Dies lasse sich an den Zahlen belegen. Hinter den Prügelstrafen stehe der Glaube an eine „angeborene Verderbtheit und Erbsünde des Menschen“. Völlig anders sieht dies der Anwalt der „Zwölf Stämme“ Michael Kremnitz. Richtig angewendet, hätten die Züchtigungen „den Charakter einer rituellen Geste“. Die Sekte hat eine 146 Seiten starke Erziehungsfibel. Darin wird auf die guten Erfahrungen der Züchtigung bei der Dressur von Hunden verwiesen. Mit der Züchtigung der Kinder sei deren Fehlverhalten „vergeben und vergessen“. Dies nehme dem Kind „ganz im Gegensatz zur modernen Gesellschaft den physischen Druck“.

Endlich wieder lachen

Zu den aktuellen Vorwürfen wollen sich die „Zwölf Stämme“ nicht äußern. Ihr Anwalt möchte nicht ausschließen, „dass das Bild- und Tonmaterial von RTL nachbearbeitet wurde“. Weil die Aufnahmen illegal unter Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemacht wurden, könnte es sogar sein, dass die im Raum stehenden Gesetzesverstöße gar nicht geahndet würden. „Das wäre Wahnsinn“, sagt Peter. Er könne jetzt zum Glück wieder Spaß haben und lachen, ohne dass ihn jemand schlägt. (pro)

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