Vor genau zehn Jahren musste Hatun Sürücü sterben, weil sie Freiheit gegen strenge Tradition tauschte. Heute lebt ihr Mörder als freier Mann in der Türkei. Und allein in Berlin gibt es jährlich hunderte Zwangsheiraten.
Von PRO
Foto: rbb| WDR
Die Dokumentation “Verlorene Ehre – Der Irrweg der Familie Sürücü” zeigt, wie es zu Hatun Sürücüs Tod kommen konnte. Heute ist ihr Mörder frei
Der Theodor-Heuß-Saal im Schöneberger Rathaus in Berlin ist überfüllt. Dutzende haben keinen Sitzplatz gefunden und stehen dicht an dicht an den Seiten. Wegen der tiefstehenden Sonne ziehen die Veranstalter die Vorhänge zu. Es wird finster im Saal, zum Thema des Tages passt das freilich besser als strahlender Sonnenschein. An diesem Freitag gedenken die Berliner Hatun Sürücüs, des wohl bekanntesten „Ehrenmord“-Opfers Deutschlands.
An jenem Samstag vor zehn Jahren ist die Deutsch-Türkin in Berlin auf offener Straße erschossen worden. Sie wurde nur 23 Jahre alt. Sterben musste sie, weil sie mit ihrem selbstbestimmten Lebensstil vermeintlich die Ehre ihrer Familie verletzte. Ihr jüngster Bruder schoss ihr am Abend des 7. Februar 2005 an einer Bushaltestelle vor ihrer Wohnung in Tempelhof dreimal aus nächster Nähe in den Kopf. Der „Ehrenmord“ an Hatun Sürücü erschütterte ganz Deutschland. Das Wort „Parallelgesellschaften“ war danach in aller Munde. Die Frage nach gelingender Integration scheint in Zeiten von Salafismus und Dschihad-Tourismus noch heute unbeantwortet.
Im Rathaus Schöneberg hat Hatun Sürücü einst ihre Einbürgerungsurkunde entgegengenommen. An diesem Freitag sprechen die Besucher dort über „Gewalt im Namen der Ehre“. Es gebe nach wie vor in der Gesellschaft „keine einhellige Meinung“ zum Thema Zwangsheirat, sagt Bezirksbürgermeisterin Angelika Schöttler (SPD).
Party statt Kopftuch
Hatun Sürücü wurde 1982 als fünftes Kind und erste Tochter türkisch-kurdischer Eltern aus der ostanatolischen Provinz geboren. Mit ihren acht Geschwistern wuchs sie in Berlin-Kreuzberg auf. Die Familie lebte strikt nach kurdischen Traditionen. Hatun aber konnte sich mit den strengen Wertvorstellungen ihrer Eltern kaum identifizieren. Im Alter von 16 Jahren wurde Hatun mit einem Cousin in Istanbul zwangsverheiratet. Bereits nach einem Jahr war die inzwischen Schwangere aus der Türkei zurück nach Deutschland geflohen. Sie wollte frei sein und selbst über ihr Leben bestimmen können. Sie legte das Kopftuch ab und zog ihr Kind als Alleinerziehende auf. Hatun kleidete sich wie andere junge Frauen in ihrem Alter und ging zu Partys. Sie war ehrgeizig und zielstrebig. Sie holte den Hauptschulabschluss nach und begann eine Ausbildung zur Elektroinstallateurin. Ihr Sohn Can war ihr Ein und Alles. Hatuns Freunde beschreiben sie als fröhliche junge Frau, die gerne und viel lachte.
Die Integrationssenatorin des Landes Berlin, Dilek Kolat (SPD), erklärte am Samstag, Hatun Sürücüs Tod dürfe nicht in Vergessenheit geraten. Gewalt im Namen der Ehre sei ein „Dauerthema, das uns tagtäglich begegnet“ und auch sogenannte Ehrenmorde seien „hochaktuell“. Die Politikerin mit türkischen Wurzeln bezeichnete Sürücü als „Vorbildfrau“, besonders für alle Alleinerziehenden. Die junge Mutter habe „Mut gezeigt und eine starke Willenskraft gehabt“. Kolat sprach sich für eine Neudefinition der vorhandenen Wertvorstellungen von „Ehre“ in der Gesellschaft aus. Zudem forderte sie in den Moscheen eine kritische Auseinandersetzung mit den Themen Gleichberechtigung und Gewalt. Die Ansichten des Gastpredigers der Neuköllner Al-Nur-Moschee, der unlängst in einer Predigt die totale Unterordnung der Frau in allen Lebensbereichen forderte, nannte sie „Sexismus im höchsten Maße“. Die Gesellschaft dürfe in solchen Fällen nicht wegschauen, weil viele Jugendliche in den Moscheen von solchen Vorstellungen geprägt würden.
Für die Sürücüs war Hatuns westlicher Lebensstil inakzeptabel. Sie hatte Schande über die Familie gebracht und deren Ehre beschädigt. Wenige Tage nach dem Mord nahm die Polizei drei ihrer Brüder fest. Sie wurden wegen gemeinschaftlichen Mordes aus niederen Beweggründen angeklagt. Hatuns ältere Brüder Mutlu und Alpaslan sprach das Berliner Landgericht im April 2006 aus Mangel an Beweisen frei. Ihr jüngster Bruder Ayhan, damals 18 Jahre alt, gestand die Tat und wurde zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt. Viele Indizien sprechen dafür, dass Ayhan die Tat nicht allein geplant und umgesetzt hat, wie er im Prozess stets behauptete. Die Staatsanwaltschaft glaubt, der Familienrat der kurdischen Sippe hat damals über Hatuns Schicksal entschieden. Der Bundesgerichtshof hob den Freispruch der beiden älteren Brüder zwar später wieder auf, diese hatten sich zwischenzeitlich aber in die Türkei abgesetzt. Beide werden bis heute mit internationalem Haftbefehl gesucht. Mutlu und Alpaslan sind nach wie vor auf freiem Fuß.
„Das Problem wird mit dem Täter zusammen abgeschoben“
Nach Verbüßung seiner Haftstrafe wurde Ayhan im Juli 2014 in die Türkei abgeschoben. Bereits kurz nach seiner Verurteilung hatte die Berliner Ausländerbehörde seine Ausweisung verfügt. Ayhan Sürücü zeige „keine plausible Reue“, lautete die Begründung. Bei seiner Ankunft in Istanbul sei der mittlerweile 28-Jährige von seinen beiden älteren Brüdern herzlich willkommen geheißen worden. Ayhan Sürücü sei jetzt ein „stolzer Imbissbesitzer“, berichtete der ARD-Korrespondent Matthias Deiß. Deiß hat gemeinsam mit seinem Kollegen Jo Goll mehrere Jahre zu dem Fall recherchiert. 2011 erschien ihre mehrfach ausgezeichnete Dokumentation “Verlorene Ehre – Der Irrweg der Familie Sürücü”. Im Rahmen der Recherchen sprach Deiß auch mit Ayhan. Von Reue sei bei ihm keine Spur gewesen. Der Täter sei zu tief geprägt von dem „archaischen Werteverständnis seiner Eltern“, welches diese in Deutschland konserviert hatten. Deiß bedauerte, dass es in Deutschland keinen wirklichen Umgang mit der Thematik gebe: „Das Problem wird mit dem Täter zusammen abgeschoben“.
Im Rathaus Schöneberg präsentiert die Sprecherin des Berliner „Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung“, Petra Koch-Knöbel, das Ergebnis einer Erhebung aus dem Jahr 2013. Dazu waren 705 Beratungsstellen und Frauenhäusern, Polizeidirektionen und Kriseneinrichtungen befragt worden, um Hinweise zum Ausmaß der Problematik „Zwangsheirat“ in Berlin zu erhalten. Insgesamt 460 Fälle vermerkten die befragten Mitarbeiter. 2007 waren es noch 378 Zwangsehen. Das zeigt: Immer mehr Betroffene nehmen die Angebote an. Es zeigt aber auch: Von einem Randphänomen kann keine Rede sein.
Auch Männer betroffen
Von „Gewalt im Namen der Ehre“ sind jedoch nicht nur Mädchen und Frauen betroffen. Laut der aktuellen Erhebung des „Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung“ waren Jungen und Männer in sechs Prozent der Fälle die Opfer. Meist versuchten Familien so, die Homosexualität des Sohnes zu vertuschen. Auch Lesben und Schwule litten unter falschen Ehrvorstellungen in Familien. „Menschen wie Hatun Sürücü – egal ob heterosexuell oder homosexuell – müssen besser geschützt werden“, erklärt Jörg Steinert, Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg.
Petra Koch-Knöbel warnt außerdem vor vorschnellen Urteilen. Der Ehrenmord an Hatun Sürücü veranlasse Politiker und Medien in Deutschland, nach den Gründen für ein Scheitern der Integration von Migranten aus anderen Kulturkreisen zu suchen. Der Islam sei schnell als Ursache gefunden. Betroffen seien aber auch Christen und Jesiden. Die Erhebung des „Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung“ zeige zudem, „dass der kulturelle Hintergrund wichtiger ist als der religiöse“, so die Koordinatorin des Arbeitskreises. In den meisten Fällen lägen „patriarchale Strukturen“ vor, „die einerseits Männer über Frauen und andererseits die Interessen der Familie über diejenigen des Individuums stellen“, lautet die Einschätzung der Menschenrechtsorganisation „Terre des Femmes“.
Was bleibt von Hatun Sürücü?
Einiges hat sich getan seit Hatun Sürücüs Tod. Seit 2011 ist Zwangsverheiratungen ein eigenständiger Straftatbestand. Dem „Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung“ geht das nicht weit genug. Er fordert, dass auch „religiöse Eheschließungen“ unter Strafe gestellt werden. Weiter ungeklärt sei zudem das Problem der Verschleppung von Zwangsverheirateten ins Ausland. Hier bedürfe es neuer Anstrengungen und auch Gesetzesänderungen, um die Betroffenen nach Deutschland zurückholen zu können.
Heute muss die Frage sein: Was bleibt von Hatun Sürücü? Eine Brücke vom Tatort Oberlandstraße zum Tempelhofer Feld, die nach ihr benannt werden sollte, wird nun doch nicht gebaut. Daher fordert der „Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung“, eine andere „repräsentative Einrichtung“ – eine Schule, Bibliothek oder Kindertagesstätte – nach Hatun Sürücü zu benennen. Auch ein spezieller Gedenktag gegen Zwangsverheiratung und Ehrenmorde ist im Gespräch. (pro)
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