Egoismus nimmt zu: „Ich höre den Aufschrei nicht laut genug“

Nach den Übergriffen auf Polizei und Rettungskräfte an Silvester und Neujahr steht erneut die Frage nach härteren Strafen für die Täter im Raum. Auch bei Unfällen geht es oft um Gaffen statt Helfen. Und selbst das Netz ist reich an Pöbelei und Selbstverliebtheit. Steuern wir auf eine kalte Gesellschaft voller Egoisten und Narzissten zu?
Von PRO
Ein klassisches Bild für Selbstverliebtheit: Der „Narziss“ von Michelangelo

Camping in der Rettungsgasse, Gassi gehen mit dem Hund mitten auf der Autobahn, Wenden am Stauende und als Geisterfahrer weiterfahren – was wie nach einem schlechten Film klingt, ist Anfang September bei einem Unfall auf der Autobahn 5 bei Frankfurt passiert. Die Rettungskräfte hatten kaum eine Chance, zum Unfallort vorzudringen. Ein anderer Fall: Im Frühjahr blockierten Autofahrer eine Rettungsgasse so massiv, dass die Einsatzkräfte zu Fuß weitergehen mussten und dementsprechend viel zu spät an der Unfallstelle eintrafen. Auf dem Weg dorthin wurden sie von Autofahrern angepöbelt und ausgelacht. Nur dem Glück war es geschuldet, dass die Unfall-opfer von anderen Verkehrsteilnehmern erstversorgt wurden und nicht lebensgefährlich verletzt waren.

Berichte wie diese häufen sich und werfen die Frage auf: Was läuft falsch in einer Gesellschaft, in der Menschen, die Leben retten und Gutes tun wollen, immer öfter an der Arbeit gehindert werden? Nicht nur Rettungskräfte, auch die Polizei ist vermehrt mit gewaltsamen Angriffen konfrontiert. Die aktuelle Statistik des Bundeskriminalamtes zu Gewalt gegen Polizeibeamte zeigt: Elf Prozent mehr Fälle von Widerstand gegen die Staatsgewalt gab es im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr. Die Zahl der Fälle von versuchten und vollendeten Gewalttaten gegen Polizisten stieg um fast zehn Prozent.

Leben wir in einer Gesellschaft, die immer mehr verroht, rücksichtloser und egoistischer wird?

Gewalt gegen Helfer

„Die Schwere der Taten hat zugenommen“, sagt der Vizepräsident des Deutschen Feuerwehrverbandes, Frank Hachemer. Er hat den Eindruck, dass die Menschen „bereit sind, ihre Interessen viel stärker mit den Ellenbogen durchzusetzen“. Hachemer erinnert sich an einen nächtlichen Einsatz in einem Wohngebiet, bei dem ihm nur knapp eine Bierflasche am Kopf vorbeiflog. Der Grund: Ein Anwohner fühlte sich von den lauten Maschinen wie Pumpen und Stromaggregat der Rettungsfahrzeuge gestört. So ein Verhalten sei völlig unverständlich. „Man ist irritiert, denn wir wollen doch nur Schaden abwenden“, sagt Hachemer. Weil Feuerwehrleute oft ehrenamtlich arbeiteten und eine hohe Motivation mitbrächten, seien Angriffe oder Behinderungen im Dienst besonders verletzend.

Anders als zur Gewalt gegen Polizeibeamte gibt es bis jetzt nur wenige Statistiken über die Situation von Rettungskräften. Die Hamburgerin Janina Dressler versuchte für ihre Doktorarbeit am Kriminologischen Seminar der juristischen Fakultät der Uni Bonn, die Entwicklung zumindest im Ansatz abzubilden. Ihre Befragung im Jahr 2014 von mehr als 1.000 Rettungskräften der vier größten Berufsfeuerwehren Deutschlands in Hamburg, Berlin, Köln und München zeigt, dass viele Einsatzkräfte mit Gewalt konfrontiert werden. Jeder dritte Befragte sei demnach während eines Einsatzes schon geschlagen oder getreten worden. Jeder Fünfte erlebte schon den Angriff mit einer Waffe. 70 bis 80 Prozent wurden schon geschubst und angerempelt. Insgesamt stellte die Hamburgerin mehr als 4.000 Fälle von Übergriffen fest.

„Selbstlosigkeit hat einen schlechten Beigeschmack

Der Psychiater und Neurowissenschaftler Raphael Bonelli beobachtet in den vergangenen Jahren eine „ganz klare Steigerung“, was egoistisches Verhalten betrifft. Bonelli zieht dafür eine Studie der San Diego State University heran. Von 1976 bis 2006 beobachteten Forscher etwa 17.000 Studenten und ermittelten deren „Narzissmuswerte“, also wie sehr sich die jungen Menschen übermäßig um sich selbst drehten. Im Jahr 2006 lagen zwei Drittel der Studenten über dem Durchschnitt der Jahre 1979 bis 1985. Seit den Achtzigerjahren steige bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen der krankhafte und grenzwertige Narzissmus stetig an, sagt Bonelli. Er spricht daher von einem zunehmenden Narzissmus in der Gesellschaft.

Der Wissenschaftler macht das auch daran fest, dass „Worte wie Selbstlosigkeit einen schlechten Beigeschmack“ bekommen hätten. Die Fähigkeit zur selbstlosen Hingabe werde abgewertet oder lächerlich gemacht. Auch das Wort „Dienst“, das eine wichtige Rolle für das psychologische Funktonieren des Menschen spiele, werde kaum noch gebraucht

„Der Narzisst kann nichts Höheres anerkennen. Er ist sich selbst der Größte, der Wahrste und der Schönste.“

Berufsbezeichnungen würden umbenannt, häufig in englische Begriffe, sodass der Eindruck entstehe, jeder sei in irgendeiner Weise Chef. Auch der zunehmende Bedeutungsverlust der Religion in der westlichen Welt sei ein Zeichen für zunehmenden Narzissmus. „Religion ist die Königsdisziplin der Selbsttranszendenz“, sagt Bonelli. Selbsttranszendenz bedeute, auf ein Ziel hinzuleben, das höher ist, als man selbst. Das sei wichtig für die psychische Gesundheit. „Der Narzisst kann nichts Höheres anerkennen. Er ist sich selbst der Größte, der Wahrste und der Schönste.“

Der zunehmende Narzissmus zeige sich auch beim Thema Familie. Kinder würden weniger und später geboren, oft, weil Menschen sich zunächst selbst verwirklichen wollten. Partnerschaften seien unverbindlicher. Es gehe nicht mehr um das Zusammensein „in guten wie in schlechten Tagen“. Stattdessen heiße es: „Solange es mir guttut, bleibe ich bei dir.“ Die Frage nach dem eigenen Vorteil stehe im Zentrum.

So lassen sich auch Fälle wie der des Essener Rentners erklären, dem im Oktober 2016 niemand zur Hilfe kam, als er an einem Überweisungsautomaten einer Bank stürzte und reglos liegenblieb. Vier andere Kunden der Bank schenkten ihm keine Beachtung, erst ein fünfter rief den Rettungsdienst. Der Rentner starb eine Woche später an seinen Verletzungen. Drei der vier Kunden müssen sich nun wegen unterlassener Hilfeleistung vor Gericht verantworten.

Ein aktueller Fall: In Rheinland-Pfalz wurde Anfang November ein Mann von einem Auto angefahren und lag mit einer Kopfverletzung auf dem Bürgersteig. Der Unfallverursacher fuhr einfach weiter. Passanten, die der Verletzte um Hilfe bat, gingen weiter und halfen nicht. Der Verletzte hatte Glück: Es gelang ihm schließlich, mit dem Handy selbst Hilfe zu rufen.

Generation Selfie

Auch die Sozialen Medien seien verantwortlich für mehr Egoismus. Dass Plattformen wie Facebook und Instagram selbstdarstellerisches Verhalten förderten, sei „keine Frage“, ist sich Raphael Bonelli sicher. Vor allem auf Instagram gehe es darum, Fotos von sich ins Netz zu stellen und dann Beifall zu erwarten.

Zunehmend egoistisch wirkt auch das Verhalten in den Kommentarspalten sozialer Netzwerke. Dass der Umgangston dort in den vergangenen Jahren rauer geworden ist und es an Rücksicht und Mitgefühl mangelt, ist offensichtlich. Der Bielefelder Kommunikationswissenschaftler Andreas Zick beobachtet, dass „eine soziale Norm fehlt“. Viele Menschen wüssten nicht, wie man sich im Netz angemessen verhalte. Das zeigten Hasspostings und vorurteilsbeladene Äußerungen. Im direkten Gespräch würde so etwas seltener unbedacht geäußert. Hinzu komme, dass, wer hasserfüllte Äußerungen im Netz tätige, sofort eine „soziale Verstärkung“ bekomme. Andere Nutzer zollten in Form von Lob oder Zustimmung Anerkennung. Es entstehe eine regelrechte „Hate-Community“. Zick beobachtet außerdem eine Wechselwirkung zwischen der realen Welt und der Netzwelt. Die Grundstimmung der Bevölkerung und das Verhalten im Netz beeinflussten dasjenige in der analogen Welt und andersherum. Vor allem für junge Menschen sei die Netzwelt genauso bedeutsam wie die analoge.

Rechtspopulismus kann Egoismus fördern

Das vom Bund geförderte Forschungsprojekt „Nohate – Bewältigung von Krisen öffentlicher Kommunikation im Themenfeld Flüchtlinge, Migration, Ausländer“ gegen Flüchtlings- und Migrantenhetze im Social Web will Hass im Netz eindämmen. Ziel ist eine automatisierte Analyse von Hasskommentaren im Netz in Echtzeit. Ein spezielles Hilfsprogramm soll Webseiten-Betreuern anschließend direkte Handlungsempfehlungen geben, wie sie auf die Beschimpfungen richtig reagieren können. Beteiligt an dem Versuch sind das Social-Monitoring-Unternehmen Vico, das die Software liefert, die Freie Universität Berlin und die Beuth Hochschule für Technik. Das Projekt startete im Oktober und soll drei Jahre laufen.

Verantwortlich für zunehmend egoistisches und rücksichtsloses Verhalten im Netz sei unter anderem die Welle des Rechtspopulismus, sagt Kommunikationswissenschaftler Zick. Seit Beginn der Flüchtlingskrise und von Pegida hätten hasserfüllte Äußerungen im Netz deutlich zugenommen. „Hatepostings sind Teil ihrer Identität“, sagt er zum Beispiel über einen Teil der Pegida-Demonstranten. Das Äußern von Hass schaffe Zugehörigkeit.

Bonelli bestätigt, dass zunehmender Rechtspopulismus wie zum Beispiel durch Parteien wie die „Alternative für Deutschland“ (AfD) für mehr Egoismus in der Gesellschaft sorgen kann, besonders beim Thema Flüchtlinge. „‚Wir sind wir, wozu sollen wir helfen‘ hat sicher eine narzisstische Dimension“, sagt er. Der Psychiater warnt jedoch davor, nur eine Seite schlecht zu machen. Auch das Gegenteil, sich „hemmungslos als Gutmensch zu präsentieren“, zeuge von Narzissmus.

Bonelli beobachtet die aktuelle Entwicklung der Gesellschaft mit Sorge. „Die Menschen werden immer bindungsunfähiger“, sagt er. Das habe zur Folge, dass „man auf sich selbst zurückfällt, auf das eigene Ego, die eigene Leistung“. Der Psychiater spricht von einer „Entsolidarisierung“. Denn die Gesellschaft basiere auf einem Miteinander und darauf, dass es Menschen gebe, die einander dienten. Eine unsolidarische Gesellschaft zerfalle auf Dauer.

„Christen haben einen Sendungsauftrag“

Feuerwehrverbandsvize Hachemer plädiert dafür, bestehende Gesetze konsequenter anzuwenden. Härtere Strafen würden vor allem nur dazu führen, dass über das Problem geredet werde. Letztendlich aber müssten die Menschen selbst zur Einsicht kommen. „Nur Druck machen, geht auf Dauer schief“, sagt er. Hachemer sieht da auch besonders Christen und die Kirche in der Pflicht. „Als Christen haben wir einen Sendungsauftrag.“ Sie sollten sich deshalb ganz besonders für eine solidarischere Gesellschaft einsetzen. Auch von den Kirchen als gesellschaftlicher Kraft erwartet Hachemer mehr. „Die Kirche ist zu leise. Sie muss lauter und deutlicher werden“, sagt er. Die Kirchen kümmerten sich zu sehr um ihre eigene Neu-Aufstellung, statt um die Entwicklung der Gesellschaft.

Bonelli bemängelt, dass zu wenig über das Problem der narzisstischen Gesellschaft gesprochen werde. „Ich höre den Aufschrei noch nicht laut genug“, sagt er. Klares Profil wünscht auch er sich von den Kirchen. Sie würden oft falsche Prioritäten setzen. Bonelli betont ebenso wie Hachemer, dass das Ziel sein müsse, den Einzelnen dazu zu bringen, an sich selbst zu arbeiten. Nur dann verändere sich wirklich etwas. „Die Kirchen sollten es besser wissen“, sagt der Psychiater. Er beobachte jedoch „eine Tendenz, im Mainstream zu schwimmen und sich anzupassen“, um bei den Menschen zu punkten. Die christliche Botschaft „Verleugne dich selbst, nimm dein Kreuz auf dich und folge mir“ stehe dem Zeitgeist aber entgegen. Sie sei nur dann überzeugend, „wenn man es verinnerlicht hat, es selbst glaubt, lebt und verkündet“.

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe 6/2017 des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie pro kostenlos und unverbindlich unter Telefon 06441-915-151, per E-Mail an info@kep.de oder online.

Von: Swanhild Zacharias

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