„Drama, Baby, Drama!“: Hilflose Kinder bei hilflosen Teenagern

Soviel steht fest: Wie keine andere Sendung der vergangenen Jahre hat die Doku-Reihe "Erwachsen auf Probe" für derart heftige Diskussionen und Empörung gesorgt. Am Mittwoch liefen die ersten beiden Folgen auf RTL - die zeigen, wie berechtigt die Kritik war.
Von PRO

Ist zu dieser RTL-Sendung nicht schon alles gesagt und geschrieben? Haben nicht schon genug Verbände kritisiert, was der Sender bereits vorab zu „Erwachsen auf Probe“ ankündigte? Und hat RTL nicht schon ausreichend versucht, die Wogen zu glätten? Nein, es ist noch lange nicht alles ausreichend gesagt und geschrieben worden, was diese Dokumentation betrifft. Denn die ersten beiden Folgen, die am Mittwochabend gezeigt wurden, machen deutlich, wie dramatisch schlecht und fragwürdig die Sendung eigentlich ist. Das lässt sich begründen.

1.  RTL verkauft die Sendungen als „soziale Reifeprüfung für Teenager“ – was natürlich völliger Unsinn ist. Denn auch diese Sendung steht natürlich unter der Show-Maxime von RTL, das alles der Unterhaltung des Zuschauers zu diesen hat. Dramatisierung ist alles – und dafür müssen die Jugendlichen zunächst einmal aus ihrer sozialen Umgebung isoliert, von Mutter und Vater, von Freunden und Verwandten getrennt werden. Als ein Mädchen in der Show in Tränen ausbricht, weil sie mit der Angst, komplett versagt zu haben, nicht klarkommt, und auch in ihrem türkischen Freund keinerlei Unterstützung sieht, fleht sie förmlich um ein Gespräch mit ihrer Mutter. „Mit ihr kann ich über alles sprechen, sie würde mich jetzt verstehen“, sagt sie. Vergeblich, statt ihrer ersten und besten Ansprechpartnerin in dieser Situation kommt Katja Kessler um die Ecke. Die Jugendlichen werden ihrer natürlichen Umgebung beraubt – und damit einer Grundvoraussetzung für eine wie auch immer geartete „soziale Reifeprüfung“.

2. Für diese Sendung gibt es keine Rechtfertigung. Warum sollte „Erwachsen auf Probe“ denn auch gedreht werden, ganz nüchtern gefragt? RTL sagt, mit der Doku-Show einen Eignungstest für Jugendliche bieten zu wollen. Die 16- bis 19-jährigen Teenager sollten erfahren, wie hart die erste Zeit als Eltern mit Babys sein kann. Die Prüfung, der die vier jugendlichen Paare ausgesetzt werden, fasst RTL in der Sendung denn auch so zusammen: „Sind Deutschlands Teenager wirklich reif für eigene Kinder, werden ihre Beziehungen den Alltagsstress wirklich aushalten, werden sie an ihren Aufgaben wachsen oder zerbrechen?“ All diese Fragen sollen sich in wenigen Tagen Showprogramm beantworten lassen? Unmöglich. Jedes Elternpaar, ob Teenager oder Erwachsener, erlebt in den ersten Tagen mit Neugeborenen dutzende Situationen, die an die Grenze der Belastbarkeit gehen. RTL hätte genauso gut Erwachsene vor die Kameras stellen können – von denen sich die Mehrheit in den ersten Tagen mit Baby nicht anders verhalten hätte. Und doch macht es einen Unterschied, ob Eltern dem eigenen Kind mit emotionaler Nähe begegnen oder ein gänzlich fremdes Baby betreuen sollen. Mit diesem wesentlichen Faktor der Emotion – auch Elternliebe genannt – werden Alltagsstress und Belastungen grundsätzlich anders verarbeitet. Davon aber will RTL nichts wissen.

Hilflosigkeit und Tränen

3. Doch weitaus dramatischer ist der Umstand, dass die selbstverständlich überforderten Teenager ihre Unfähigkeit nach herausfordernden Aufgaben – Möbel aufbauen, Schwangerschaftsattrappe tragen, Babypuppe betreuen – an tatsächlichen Kleinkindern ausprobieren konnten. Was von Kritikern bereits im Vorfeld der Sendung massiv angeprangert wurde, erwies sich beim Zuschauen als weitaus dramatischer. „Und dann vertrauen vier Mütter aus ganz Deutschland den Teenagern ihren größten Schatz im Leben an – ihre Babys“, erklärte der Sprecher zu Bildern, die vier Mütter zeigen, die ihre Kinder in Wägen gerade fröhlich Richtung Teenager-Eltern fahren. Für die Kleinen gab es kein Entrinnen aus ihrem Schicksal, wie auch. Bei der ersten Begegnung eines gerade einmal 11 Monate alten Kindes mit seinen „neuen“ Eltern fällt es aus reiner Unachtsamkeit auch der Mutter mit dem Kopf auf den Holzfußboden, fängt an zu weinen. Ein kleiner Junge wird von den Teenager-Eltern auf dem Wickeltisch alleine gelassen, eine „immer anwesende“ (so RTL) Nanny muss ins Zimmer rennen, um den Jungen vor einem Sturz aus 1,5 Metern zu bewahren. Überhaupt scheinen die Kinder ständig zu schreien, glückliche Momente gibt es entweder nicht oder RTL hat sie gnadenlos herausgeschnitten. Wie es die Mütter schaffen, ihren Kindern beim Jammern und Schreien und den Teenagern bei ihrer Hilflosigkeit auf einem Überwachungsmonitor zuzuschauen – der auch noch in einem anderen Gebäude steht –, ist eines der weiteren Rätsel dieser Sendung. Einzig der Umstand, das manche der Mütter beim Beobachten der ganzen Dramatik durchaus schlucken musste und in manchen Situationen auch tatsächlich eingriff, ist ein gewisser Hoffnungsschimmer. Mehr aber auch nicht.

Seriöse Konzepte nicht gefragt?

4. Aus der Idee zur Sendung hätten die RTL-Konzepter etwas Besseres machen können. Katja Kessler hat sich nicht zuletzt durch ihr „Mami-Buch“ einen Namen als seriöse Ratgeberin in Fragen von Schwangerschaft und elterlicher Kinderbetreuung gemacht. Das Buch ist nicht nur ansprechend gestaltet, sondern voller Tipps von Experten, die Kessler zu Rate gezogen hat. Warum aber hat sie sich nun zur Mitwirkenden einer Show wie „Erwachsen auf Probe“ hinreißen lassen? RTL hätte Kessler ein Sendeformat auf den Leib schneidern können,  in dem Jugendliche und Babys nicht als Versuchspersonen missbraucht werden, sondern in der fachliche, sachliche und damit seriöse Beratung für Teenager geboten wird. Auch das lässt sich unterhaltend präsentieren – und sogar ohne das Leben von Babys auf Spiel zu setzen. Denn genau das ist bei der Aufzeichnung der RTL-Show geschehen.

5. Im Anschluss an die Ausstrahlung der Doppelfolge widmete sich freilich auch Günther Jauch in „stern TV“ dem Drama. In der Runde musste sich eine Vertreterin des Kinderschutzbundes den kritischen Fragen stellen, unter anderem einer Mutter, die ihr Kind an die Teenager verliehen hatte. „Kinder können nicht einfach so verliehen werden wie Rasenmäher“, sagte Marlis Heterich vom Kinderschutzbund. Sie kritisierte vor allem, dass die Babys und Kleinkinder bei den Dreharbeiten unnötigem Stress ausgesetzt wurden und durch die ungewohnte Situation Trennungsängste entwickeln könnten. Das ließ die Mutter nicht gelten, schließlich schrien Kinder zu Hause ebenfalls, nicht nur in der Sendung. Und ob die Babys in den wenigen Stunden, in denen sie den Jugendlichen ausgesetzt waren, Trennungsängste erfahren hätten, sei fraglich. Verstehen kann man die Intention einer Mutter dennoch nicht, ihr Kind – und sei es nur für fünf Minuten – in die Hände von Teenagern zu geben, die sich noch nicht einmal um sich selbst liebevoll und respektvoll kümmern können. Doch wen stören schon sachliche Argumente? RTL natürlich nicht. Stattdessen gilt die Maxime von Bruce, des früheren Jurors bei „Germany’s next Topmodel“, auch für „Erwachsen auf Probe“: „Drama, Baby, Drama!“

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