„Die Zeit“: Weihnachtspredigt oder Seelenwellness?

H a m b u r g (PRO) - "Schluss mit dem Geschwätz" fordert die Journalistin Evelyn Finger und meint damit die jährliche Weihnachtspredigt, die vielerorts "bloß der feierlichen Selbstvergewisserung und der kollektiven Seelenwellness" diene. In einem Kommentar für die Wochenzeitung "Die Zeit" fordert Finger mehr Tiefgang und weniger Show.
Von PRO

„Wie geht es Ihnen jetzt? Sind Sie auch so erschöpft?“ So laute der Anfang einer typisch profanen Heiligabend-Predigt, sagt Finger. Ähnlich harmlose, unverbindliche, kindische und fast schon blasphemische Wohlfühlsätze würden zu Weihnachten überall in Deutschland verkündet. Nachzuprüfen sei dies im Internet unter predigten.de.

Predigt lediglich „Sozialtherapie“

Dieser Mangel an Tiefgang sei das Enttäuschendste an Weihnachten, schreibt die Journalistin. Viel zu häufig werde von der Kanzel herab „Sozialtherapie“ betrieben. Große Prediger des 20. Jahrhunderts wie Dietrich Bonhoeffer hätten jedoch bewiesen, dass eine Kanzelrede weit mehr sein könne, nämlich: „Vergegenwärtigung des Evangeliums. Übersetzung des Heilsgeschehens in die Sprache unserer Zeit. Problematisierung des Glaubens. Kritik an den politischen Verhältnissen aus religiöser Perspektive. Vision eines modernen Lebens nach christlichem Vorbild. Und nicht zuletzt Missionierung durch die Kraft des Intellekts.“

Um dies leisten zu können, benötige ein Prediger allerdings mehr als „einen moralistischen Sündenbegriff und einen Gute-Werke-Katalog“, schreibt Finger. Vielmehr seien Talent zur Exegese, breites Geschichtswissen und solide Altsprachenkenntnisse gefordert.

„Fehlt den Pfarrern ein triftiger Predigtgrund?“

Doch warum werden gerade zu Weihnachten viele Pfarrer milde, fragt sich die Journalistin. Warum begnügen sich so viele Priester mit einer „immer trivialeren Verkündigungspraxis“? Fürchten sie die „Weihnachtschristen“ zu verprellen, oder haben all diese Prediger schlicht und einfach keinen „triftigen Predigtgrund“? Finger tendiert zu Letzterem.

Das Ergebnis dieser Substanzlosigkeit sei die populäre Form der „inhumanen Predigt“, wie sie der Münsteraner Religionswissenschaftler Wilfried Engemann beschrieben habe, schreibt die Journalistin. „Sie nimmt den Zuhörer nicht ernst, sondern behandelt ihn wie einen Konfirmanden, sie ergeht sich in vagen Appellen an seine Mitmenschlichkeit, sie anempfiehlt ihm bestimmte Gefühle, langweilt ihn mit hohlen theologischen Spekulationen und entlastet ihn durch einen klischeehafte Didaxe der ‚kleinen Schritte'“.

Form ohne Inhalt bleibt wirkungslos

Eine solche Predigt werde auch dadurch nicht humaner, dass man sie rhetorisch aufmotzt, sagt Finger. Die Journalistin lehnt es deshalb ab, die Predigt als Event im Geist des „African American Preaching“ (Afroamerikanisches Predigten) zu inszenieren. Denn mit einer Superpredigt ohne Inhalt und mit Religion ohne Utopie seien selbst die Weihnachtschristen schlecht bedient, so Finger.

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