Die Wahrheit über Juden

Eine Sonderausstellung des Jüdischen Museums in Berlin will erklären, was ein Jude ist. Eine Antwort liefert sie nicht, dafür aber eine Momentaufnahme der Vielfalt jüdischer Kultur. Zugleich fordert sie: Deutsche, entspannt euch!

Von PRO

Ein Jude sitzt im Glaskasten und sagt: „Der Holocaust ist die Geschichte von uns allen.” Die umstehenden Besucher zücken Kugelschreiber und Papier. „Haben Sie denn schon mal Antisemitismus erlebt?”, fragt einer. „Nein, ich trage ja keinen Davidsstern. Niemand weiß, dass ich jüdisch bin”, antwortet Leeor Engländer. Am Mittwoch ist der "Welt"-Journalist das wohl auffallendste Exponat der neuen Sonderausstellung „Die ganze Wahrheit … was Sie schon immer über Juden wissen wollten”. Er hat auf einem Sims Platz genommen und beantwortet die Fragen der Umstehenden. Ab Freitag, dem Tag der eigentlichen Ausstellungseröffnung, sollen andere seinen Platz einnehmen, immer wechselnd, zu zuvor festgelegten Zeiten. An der Wand hinter der Vitrine prangt ein Zitat des Journalisten Richard C. Schneider aus dem Jahr 2001. Er beschrieb seine eigene Situation in Deutschland damals mit den Worten: „Ich bin ein lebendiges Ausstellungsstück. Leute, die in meiner Person zum ersten Mal einem Juden begegnen, reagieren oft irritiert.” Das hat auch Leeor Engländer erlebt: „Wenn Sie bei einer Veranstaltung mal richtig für Verwirrung sorgen wollen, dann fragen Sie, ob das Essen auch koscher ist”, sagt er. Seine Erfahrung zeigt: Das Jude-sein in Deutschland ist nach wie vor nichts Selbstverständliches. Fragen, Vorbehalten und Verlegenheiten will das Jüdische Museum Berlin mit seiner neuen Ausstellung offensiv entgegentreten. Nicht, indem es tatsächlich erklärt, was ein Jude ist. Sondern indem es die Vielfalt jüdischer Kultur aufzeigt.

Warum beschneiden Juden ihre Kinder? Was bedeutet eigentlich koscher? Warum legen Juden Steine auf Gräber? Wer eindeutige und klare Antworten auf Fragen wie diese sucht, wird zumindest im Museum nicht fündig werden. Stattdessen sehen Besucher etwa ein Videointerview des Rabbis William Wolff, der zur Frage nach den Steinen auf Gräbern sagt: „Keine Ahnung!” Es sei wohl ein alter Brauch. Die Erklärung zur Beschneidung findet sich in Form eines Glaskastens. Darin ist das Cover einer Ausgabe des Magazins "Stern" zu sehen: „Wir sind beschnitten!”, skandieren dort Berühmtheiten wie der Regisseur Woody Allen. Neben dem Titelbild sind eine Babykippa und ein Gebetsschal ausgestellt. Wann ist ein Nahrungsmittel koscher? Dazu bietet die Ausstellung gleich mehrere Antworten, abgedruckt auf einem weiteren Exponat. Köche weisen etwa auf die Wichtigkeit der Trennung von Milch und Fleisch hin. Ein Rabbi hingegen wird mit den Worten zitiert, Lebensmittel von nichtjüdischen Firmen könnten nur dann koscher sein, wenn eine rabbinische Autorität dafür bürge. Ein anderer Zitatgeber meint: Koscher sind Milchprodukte, die von koscheren Tieren stammen.

Darf man Witze über den Holocaust machen?

Mit insgesamt 30 Fragen konfrontiert das Museum die Besucher. Antworten aus unterschiedlichen Perspektiven geben 180 Objekte. Die Kuratorinnen Michal Friedlander, Miriam Goldmann und Martina Lüdicke haben die Themen den immer wiederkehrenden Fragen in Foren und Gästebüchern des Jüdischen Museums sowie im Umgang mit den Besuchern entnommen. Doch die Ausstellung will nicht nur einen Überblick über den Pluralismus der jüdischen Kultur geben. Sie ist auch interaktiv gestaltet. Mit Münzen dürfen Besucher zum Beispiel abstimmen, ob sie Juden für besonders geschäftstüchtig, intelligent oder schön halten. In einem anderen Raum darf der Zuschauer raten: Jude oder nicht? Von der Decke hängen dazu übergroße Plakate mit den Fotos von Berühmtheiten wie Sänger Justin Bieber, Fußballstar David Beckham oder Komiker Charlie Chaplin. Auch hier bleibt die Ausstellung aber eine klare Antwort schuldig. Alle gezeigten Popstars haben gemeinsam, dass ihre jüdischen Wurzeln nicht eindeutig nachgewiesen werden können.

Die Installation erinnert an die Witze des deutsch-jüdischen Komikers Oliver Polak. In einer seiner Shows nannte er einst die Namen berühmter Personen. Die Zuschauer forderte er ebenfalls zum Raten auf. „Jude!” oder „Kein Jude!” sollten sie rufen. So ist es wohl kein Zufall, dass Oliver Polak ebenfalls in der Ausstellung des Jüdischen Museums auftaucht und zwar zur Frage: „Darf man über den Holocaust Witze machen?” Zu sehen sind Filmausschnitte aus seiner Show, aber auch aus amerikanischen TV-Sendungen. Wie der Rest der Ausstellung belegen sie das schwierige Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nazivergangenheit und den Juden im Allgemeinen. Denn: Juden selbst lachen sehr wohl über ihre Geschichte und sei sie noch so schmerzhaft. So kann „Die ganze Wahrheit” weniger als Aufklärungs- denn als Auflockerungsarbeit verstanden werden. Nicht umsonst ist das erste, was Besucher beim Betreten der Ausstellungsräume sehen, ein Judenwitz: Kommt ein Mann zum Rabbiner und fragt: „Warum antwortet ihr Juden auf eine Frage immer mit einer Gegenfrage?” Der Rabbi antwortet: „Warum nicht?” (pro)

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