Die verlorene Ehre der Hatun Sürücü

Vor sechs Jahren und sechs Monaten erschoss Ayhan Sürücü seine Schwester. Sie lebte zu "westlich", er sah die Ehre der kurdischen Familie in Gefahr. Das Drama um den Ehrenmord an Hatun Sürücü ging damals um die Welt. Nun haben RBB-Journalisten den Fall neu aufgerollt.

Von PRO

"Ich war mit mir selbst zufrieden", sagt Ayhan Sürücü heute über den Mord an seiner Schwester. Am 7. Februar 2005 endete das Leben von Hatun Sürücü. An einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof ermordete Ayhan sie mit drei Pistolenschüssen. Sie habe ihm sinngemäß gesagt, dass sie schlafen könne, mit wem sie wolle, erinnert sich der gläubige Moslem heute. Ayhan sah die Ehre seiner kurdischen Familie in Gefahr – und drückte ab.

Heute ist er in einem Berliner Gefängnis inhaftiert. Die Journalisten Jo Goll und Matthias Deiß trafen den jungen Mann hinter Gittern. Auch seinen Bruder Mutlu, der in der Türkei lebt, aber per internationalem Haftbefehl gesucht wird, holten die ARD-Mitarbeiter vor die Kamera. In ihrem 45-minütigen Film zeichnen sie das Profil der Familie Sürücü nach und zeigen: Obwohl die Kurden zum Zeitpunkt des Mordes seit 35 Jahren in Berlin lebten, waren sie keineswegs in Deutschland angekommen. Tradition und Religion bestimmten ihr Leben, Integration gab es kaum – und Hatun wurde Opfer dieses Mißstandes. Die ARD zeigte "Verlorene Ehre – Der Irrweg der Familie Sürücü" am Mittwochabend. Der RBB wiederholt den Film am 22. August um 21 Uhr. Auch ein Buch haben die Journalisten verfasst. "Ehrenmord – Ein deutsches Schicksal" erscheint am heutigen Donnerstag im Verlag Hoffmann und Campe.

Im Kiez fällt es auf, wenn einer aus der Reihe tanzt

Familie Sürücü schützte ihre Frauen von jeher – vor allem vor fremden Männern. Kam Besuch ins Haus, waren die Frauen angewiesen, sich zurückzuziehen. Das Tragen des Kopftuchs war Pflicht. Ayhan berichtet, er habe als Kind keinerlei Kontakt zu Deutschen gehabt. Und dass er eine Vaterrolle für die jüngeren Schwestern übernommen habe. Der Kiez, in dem die Familie lebte, ist eine kurdische Enklave mitten in Berlin, ein Gebiet "der starken Männer", wie es die Macher des Films nennen. Wenn hier jemand aus der Reihe tanze, merke das die Gemeinschaft rasch. Hatun wurde mit 16 Jahren mit ihrem Cousin verheiratet. Die beiden bekamen einen Sohn, doch die Ehe scheiterte. Die Familie nahm Hatun nach der Trennung wieder auf – unter der Bedingung, dass sie sich im Hintergrund halte und der Mutter im Haushalt helfe. Doch Hatun hatte andere Pläne. Sie holte ihren Hauptschulabschluss nach, zog in ein Mutter-und-Kind-Heim und machte eine Lehre zur Elektroinstallateurin. Sogar das Kopftuch legte sie ab. Und sie suchte sich einen deutschen Partner.

Ayhan sagt heute, er habe den Mord auch für seinen Vater begangen. Dieser habe unter Hatuns Lebenswandel gelitten. Zur Tat habe er ihn nicht angestachelt und auch seine zwei Brüder hätten damit nichts zu tun gehabt. Bei seinem Geständnis gibt sich der junge Türke als Einzeltäter. Die Justiz sieht das anders. Zwar wurden Ayhans Brüder zunächst freigesprochen, der Bundesgerichtshof widerrief das Urteil aber 2007. Mittlerweile werden sie international gesucht. Die Männer haben sich in die Türkei abgesetzt. Eine Kronzeugin hatte während des Prozesses ausgesagt, dass der ältere Bruder Mutlu die Waffe an Ayhan geliefert habe. Zeugin Melek A., die damalige Freundin des Mörders, will gehört haben, dass einer der Brüder in der U-Bahn auf die anderen Fahrgäste gezeigt und gesagt habe: "Siehst du diese Menschen hier? Sie zu töten ist keine Sünde, weil sie Ungläubige sind." Glaubt man Melek A.’s Worten, hatte Ayhan sich die göttliche Erlaubnis für den Mord in einer Moschee bestätigen lassen. Melek A. ist nach dem Prozess untergetaucht – aus Angst, jemand könnte auch ihr etwas antun. Auch Hatun hatte kurz vor ihrem eigenen Tod große Sorge. Ihre beste Freundin Gülsak erinnert sich: "Wir mussten uns verstecken", sagt sie. Hatun sei zeitweise bei ihr eingezogen, weil diese um ihr Leben und das ihres Kindes gefürchtet hätte. Einen ihrer Brüder habe sie sogar angezeigt – doch die Polizei habe nichts unternommen.

"In einem islamischen Staat wäre sie gesteinigt worden"

Die Journalisten treffen auch den älteren Bruder Mutlu Sürücü, den Melek A. damals schwer belastete. Er habe seine Schwester für ihren Lebenswandel gehasst, gibt er im Interview zu. Schon ihre für seine Begriffe freizügige Kleidung habe ihn wütend gemacht. Damit habe sie Jungs anmachen wollen, das wisse jeder. Mit dem Mord will er dennoch nichts zu tun haben. Selbstjustiz sei im Islam verboten, sagt er, Unzucht aber auch. In einem islamischen Staat wäre seine Schwester gesteinigt worden, erklärt Mutlu – und findet das akzeptabel, schließlich entspreche es den islamischen Gesetzen. Er hat in Deutschland sein Abitur gemacht, hat sogar ein Studium begonnen. Beim Bund wurde er schließlich zum strenggläubigen Moslem. Auch seine Frau und seine Kinder leben in der Türkei nach kurdischer Tradition – so wie es im Elternhaus Brauch war.

Ayhan sagt heute, er bereue das Verbrechen an seiner Schwester. Er habe in seiner Entwicklung wohl nicht genug Austausch mit Anderen gehabt. Aus dem Gefängnis heraus rät er anderen jungen Menschen mit Migrationshintergrund, sich zu "öffnen" und über ihre Probleme zu sprechen. Wenn er seine Haft abgesessen hat, wird der in Deutschland Geborene aus der Bundesrepublik ausgewiesen werden. Auch ihn wird es also nach Istanbul verschlagen, wo seine Brüder schon jetzt leben. So bleibt Ayhan wohl der Familientradition treu. (pro)

http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/3517136?documentId=7780680
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