Die Vergessenen

35 Millionen Menschen auf der Welt sind dement. Einige von ihnen sind so schwer erkrankt, dass sie ihren Namen nicht mehr kennen, nicht selbständig essen oder trinken können und die Erinnerung an engste Familienmitglieder und Freunde verlieren. Aber vergessen sie auch Gott?

Von PRO

An diesem Donnerstag im April haben es Gottesdienstbesucher schwer, bis in die vorderen Reihen der Zwölf-Apostel-Kirche in Berlin-Schöneberg zu gelangen. Der Gang zwischen den Kirchenbänken ist vollgestellt mit Rollstühlen und Rollatoren. Die evangelische Luther-Kirchengemeinde hat zum Demenz-Gottesdienst eingeladen. Die Veranstaltung steht unter dem Motto „Weißt du, wie viel Sternlein stehen”. Der Bezug zum Kinderlied soll jenen ein Stück Erinnerung zurückgeben, die ihr Leben nach und nach vergessen.

Über eine Million Menschen in Deutschland leiden an Demenz. Rund 50 Krankheiten verbergen sich hinter dem Überbegriff, der sich vom lateinischen „demens“ ableitet. Auf Deutsch bedeutet das soviel wie „ohne Geist”. Die häufigste und wohl bekannteste Form der Demenz ist Alzheimer, eine Verkalkung im Gehirn. Der größte Risikofaktor für eine Erkrankung ist laut Robert-Koch-Institut einer, dem niemand aus dem Weg gehen kann: Das Alter. Von den 65- bis 69-Jährigen sind zwei Prozent dement, bei den über 90-Jährigen ist jeder dritte betroffen. Vom Einsetzen der Demenz bis zum Tod vergehen im Durchschnitt vier bis acht Jahre, wobei die Betroffenen nicht der Krankheit selbst zum Opfer fallen. Sie sterben zum Beispiel an Abmagerung oder Austrocknung, Lungenentzündung oder Herz-Kreislauf-Versagen. In dieser Zeit verlieren Betroffene nach und nach die Kontrolle über sich. Während sich Demenz zunächst oft durch leichte Gedächtnis- oder Sprachstörungen zeigt, verlieren Erkrankte im weiteren Verlauf die Orientierung, können nicht mehr alleine einkaufen, vergessen, sich zu waschen. Am Ende sind den Patienten die einfachsten Dinge unmöglich, nicht einmal selbständig essen, trinken oder sprechen können viele dann noch. Sie wissen nicht mehr, wo oder wer sie sind. Sie erkennen ihre engsten Angehörigen nicht mehr. Depressionen, Schlafstörungen, Halluzinationen, Unruhe, Angst und auch Aggressionen sind Begleitsymptome der Demenz. Heilbar ist die Krankheit nicht.

Hunger nach Gott

Im Besprechungsraum von Ulrich Kratzsch ist die Krankheit allgegenwärtig. Neben der Stuttgarter Jubiläumsbibel stehen im Bücherregal Titel wie „Erinnerungen Raum geben”, „Abschied zu Lebzeiten”, oder „Visuelle Kommunikation für Menschen mit Demenz”. Auf einem Sims liegen Anstecker mit der Aufschrift „Unsere Kommune ist demenzfreundlich”. Kratzsch ist nicht nur Vorsitzender des Gemeindekirchenrats der Luther-Gemeinde. Er ist auch für die Organisation der Demenz-Gottesdienste zuständig. „Ich glaube, dass demenziell Erkrankte einen Hunger nach Gott haben”, sagt er. Tatsächlich gehen Fachleute davon aus, dass die Demenz zwar das Denken beeinträchtigt, keinesfalls aber die Fähigkeit, Emotionen zu erleben. „Die Menschen im Gottesdienst freuen sich, wenn ich sage, Jesus Christus ist auferstanden”, sagt Kratzsch. Ob die Kranken in der Kirche überhaupt etwas Geistliches wahrnähmen, könne freilich niemand mit Sicherheit sagen. „Aber das wissen Sie bei einem normalen Gottesdienst ja auch nicht.” Er lächelt und blickt über den Rand seiner Lesebrille. Deshalb verlasse er sich auf den Heiligen Geist und ein paar Regeln für Veranstaltungen mit Dementen.

Anders als in normalen landeskirchlichen Gottesdiensten wiederholen sich bei Kratzsch bestimmte Lieder. Neues Liedgut ist tabu, er setzt ganz darauf, dass seine Gäste Erinnerungsfetzen aus ihrem früheren, gesunden Leben wiederentdecken. Alles, was das emotionale Erleben der Betroffenen fördert, hilft dabei, ist er überzeugt, auch Musik. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich bei einem Demenzgottesdienst einmal alle an den Händen halten oder dass ein Kinderchor auftritt. Nicht alle Besucher spezieller Demenzgottesdienste sind so schwer krank, dass sie sich an nichts mehr erinnern oder gar das Sprechen verlernt haben. Doch Betreuung brauchen sie alle. Niemand kommt ohne Pflegepersonal oder Angehörige.

Wer sich um Demente kümmert, hat wenig Gewinn

Als in der Zwölf-Apostel-Kirche das erste Lied erklingt, herrscht Chaos. Während Pfarrer Andreas Fuhr und Kratzsch kräftig „Geh aus, mein Herz” anstimmen, murmeln die rund 100 Besucher wild durcheinander. Eine Frau im Rollstuhl versucht immer wieder, aufzustehen, ihre Pflegerin schiebt sie jedes Mal sanft zurück und hält schließlich ihre Hand, bis sie sich beruhigt hat. Andere bewegen sich überhaupt nicht. Ein Mann steht auf und läuft Richtung Eingangstür, sein Begleiter hastet hinterher und geleitet ihn zurück zu seinem Platz. Über den Kirchenbänken hängen Schilder mit Aufschriften wie: „Ich glaube, dass du über mich wachst” oder „Ich glaube, dass Gott mir zuhört, wenn ich mit ihm rede”.

Kratzsch spricht von einer „Isolationsspirale”, wenn er das Schicksal vieler Dementer beschreibt. Rund ein Drittel der Erkrankten in Deutschland wird in Alten- und Pflegeheimen betreut. Mit zunehmender Schwere der Demenz können Angehörige die alltäglichen Herausforderungen, die mit dem Zusammenleben mit einem Kranken verbunden sind, nicht mehr handhaben. Unsichtbar sei dieser Teil der Gesellschaft deshalb geworden, auch für die christliche Gemeinde, sagt Kratzsch. „Kinder- und Jugendarbeit macht jeder gerne”, sagt er. Doch wer sich um Demente kümmern möchte, muss viel leisten und hat wenig Gewinn.

„Nun habt ihr alle Sternschnuppen in den Händen.”

Der Gottesdienst in der Zwölf-Apostel-Kirche endet mit dem Abendmahl. Die Kindertheatergruppe, die kurz zuvor noch das Märchen „Sterntaler” aufgeführt hat, bringt Traubensaft und Brot zu den Besuchern. „Sehet und schmecket, wie freundlich der Herr ist”, sagt Pfarrer Fuhr. Mit Blick auf das Pflegepersonal, das jenen Kranken, die sich nicht mehr selbständig bewegen können, das Glas mit dem Saft an die Lippen presst, könnten diese Worte sarkastisch wirken. Gerhard Skirde aber lächelt. Als von vorne das Vater Unser erklingt, spricht er mit. Auch er hält schließlich seinen Stern aus Pressspan in der Hand, das Symbol für die Liebe Gottes an diesem Tag. „Nun wollen wir die Sterne hochhalten und die Arme hin und her bewegen”, fordert Ulrich Kratzsch die Gemeinde auf. Er steht neben Fuhr und lacht in die Runde. Als ein Großteil der Gäste die Arme hin und her bewegt, sagt er im Singsang, als würde er mit kleinen Kindern sprechen: „Seht ihr, nun habt ihr alle Sternschnuppen in den Händen.” (pro)

Der Artikel „Die Vergessenen” ist in einer Langfassung in der aktuellen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins pro erschienen. Bestellen Sie das Magazin kostenlos unter der Telefonnummer 06441/915151, via E-Mail an info@pro-medienmagazin.de oder online.

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