Die Syrienkrise aus israelischer Sicht

Das offizielle Israel schweigt zu dem blutigen Drama im nordöstlichen Nachbarland, baut seine Grenzanlagen aus und gönnt seinen Nachrichtendiensten keine Atempause. Hin und wieder wird das Schweigen durchbrochen von der als Feststellung verkleideten Drohung in Richtung arabische Nachbarn, die wohl auch als Beruhigung für das eigene Volk gedacht ist, man sei auf jede Eventualität vorbereitet. Ein Korrespondentenbericht von Johannes Gerloff
Von PRO

Reservisten werden eingezogen und wieder nach Hause geschickt. In aller Stille werden verletzte Syrer in israelischen Krankenhäusern behandelt. Syriens Präsident Baschar al-Assad wird von der libanesischen Hisbollah, dem Iran und Russland unterstützt. Dieses „schiitische Bündnis“ wird von der Freien Syrischen Armee und sunnitischen Gruppierungen bekämpft: Muslimbrüdern, Salafisten, Dschihadisten aus aller Welt, „Al-Qaida nahestehenden“ Kämpfern.

Der gemeinsame Feind eint und bringt die Sympathie Saudi-Arabiens, Katars, der Türkei und Ägyptens, vor allem aber des Westens ein. Ansonsten ist die syrische Opposition heillos zerstritten. Fachkundige Beobachter spekulieren: Wenn Assad fällt, geht der Krieg erst richtig los!

Für Israelis sind Gut und Böse nicht voneinander zu unterscheiden. Nicht wenige wünschen beiden Seiten gleichermaßen Erfolg.

Die Medien zeigen lange Schlangen an den Verteilstellen für Gasmasken, berichten von Ärger und Panik. Für den gesamten Norden Israels gibt es nur eine Anlaufstelle in Haifa. 40 Prozent der Israelis haben keine Gasmasken zur Verfügung. Bei näherem Hinsehen ist allerdings nicht klar, was die Menschen aufregt: Ist es die Angst vor einem möglichen Giftgaskrieg – oder der Ärger darüber, dass man nach langen Busfahrten stundenlang anstehen musste, bevor man wieder nach Hause geschickt wird, ohne etwas erreicht zu haben?

Ein Wachmann vor einem großen Einkaufszentrum in der neu erbauten Stadt Modi‘in winkt lachend ab: „Wir haben den Krieg doch auf die Zeit nach den Festen verschoben!“ Vor den Läden promenieren die Menschen in aller Ruhe, sitzen in den Cafés und plaudern unbekümmert – und im Norden Israels sind Fremdenzimmer, Pensionen und Hotels bis auf den letzten Platz ausgebucht. Niemand will sich den Urlaub während der hohen Festtage, das jüdische Neujahr, den großen Versöhnungstag und das Laubhüttenfest, verderben lassen. Nur die in Folge der Syrienkrise steigenden Treibstoffpreise sind ein Wermutstropfen in der aufkommenden Festzeitstimmung.

Irritation durch USA

Doch bei alledem verfolgt Israel das Zaudern Barack Obamas, den Drohungen Taten folgen zu lassen, mit Stirnrunzeln. Man fragt sich, ob Amerikas rote Linien mehr sind als heiße Luft. Mit Blick auf die atomaren Ambitionen des Iran, der den „Schandfleck Israel“ lieber früher als später „von der Landkarte verschwinden“ sehen will, ist Syrien ein Testfall.

Aus israelischer Sicht sind die jüngsten Entwicklungen ein weiterer Beweis dafür, dass man im Ernstfall ganz auf sich allein gestellt ist. Die Glaubwürdigkeit des Westens – nicht nur Amerikas! – steht auf dem Spiel – nicht nur in Israel! Im syrischen staatlichen Fernsehen wird satirisch der Sieg Assads über Obama gefeiert, während der syrische Präsident strahlend eine Delegation des iranischen Parlaments empfängt.

Ganz unversehens habe sich der glorreiche arabische Aufstand als apokalyptisches Inferno erwiesen, stellen liberale Kommentatoren in Israels Medien fest. „Das Ende der Welt hat in Damaskus begonnen“, titelt die Tageszeitung „Ha‘aretz“: „Wenn 2013 Zivilisten vergast werden dürfen, bedeutet das ein Ende der Welt, die sich für moralisch und aufgeklärt gibt.“ In Damaskus würden nicht nur Vergaste zu Grabe getragen, folgert der Journalist Ari Schavit, sondern auch der aufgeklärte arabische Nationalismus, die Hoffnung auf das Gewissen der Welt, der Traum von einer Weltgemeinschaft, die Illusion von internationalem Recht. Und: „Wer den Barbaren heute Gnade erweist, ist direkt verantwortlich für die nukleare Aufrüstung des Irans. Chemische Waffen kommen in Syrien zum Einsatz. Massenvernichtungswaffen bedrohen die Zukunft des Nahen Ostens.“

Selbst linke Friedensbewegte sind sich einig, dass man von Glück reden kann, dass Israel die Golanhöhen nicht im Tausch für „Frieden“ an Syrien abgegeben hat. Was wäre, wenn sich heute Dschihadisten und iranische Revolutionsgarden in Katzrin ihre Giftgasschlachten liefern würden?! Die jüngsten Entwicklungen liefern grausam anschaulich den Beweis dafür, dass alle Wundermittel zur Erreichung eines Friedens – Landabgabe, Zugeständnisse, internationale Garantien – schlicht wirkungslos sind. Im Nahen Osten wird allseits wahrgenommen, dass der Westen sich nur stark zeigt gegenüber einer Demokratie, die sich der Einhaltung von Menschenrechten verpflichtet sieht.

Angesichts der zügellosen Ausübung brutalster Gewalt knicken Europa und Amerika nur zu schnell ein. Der jeglicher Bewunderung für Benjamin Netanjahu völlig unverdächtige Schavit kommt zu dem Schluss: „So sehr man Netanjahu im Westen auch verachten mag, der überwältigenden Mehrheit der israelischen Bevölkerung ist mittlerweile klar: Der Mann hat Recht! Die größte Gefahr im 21. Jahrhundert ist die Kombination von unkonventionellen Waffen mit unkonventionellen Regimen.“

Israels ehemaliger Oberrabbiner Israel Meir Lau wurde selbst als Achtjähriger von Amerikanern aus dem Konzentrationslager Buchenwald in der Nähe von Weimar befreit. Er beklagt die Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft gegenüber dem Leiden des Nächsten. „Uns fehlt heute eine Persönlichkeit wie die Tochter Pharaos.“ Sie öffnet das Körbchen im Schilf des Nils, entdeckt darin ein drei Monate altes Baby und – die Torah bezeugt: „Sie hatte Mitleid mit ihm und sagte: Das ist eines der Kinder der Hebräer!“ (2. Mose 2,6). Als Erstes besorgt sie eine Amme für den jüdischen Säugling. „Damit übertrat sie das Gebot ihres Vaters“, beobachtet der Theologe, „des Königs von Ägypten, der alle Jungen, die den Israeliten geboren wurden, zum Tode verurteilt hatte.“ Rabbi Lau kommt zu dem Schluss: „Das Blut der Opfer des Massakers von Damaskus schreit uns vom Erdboden an!“

„Gemeinsames Gebet ist besonders wirksam“

Rabbi Juwal Scherlow wurde von einem seiner Schüler gefragt, wie man sich im Blick auf die Krise in Syrien verhalten solle. Er antwortet mit einem Verweis auf die Macht des Gebets. Besonders die Psalmen 37 und 120 passten für die Lage in Syrien. Allerdings hat er auch ein eigenes Gebet verfasst für die Notleidenden in dem Land, das seinen eigenen Staat seit Beginn seiner Existenz bekämpft.

Scherlow ist überzeugt, das Gebet eines Einzelnen wird von Gott erhört – aber auf dem gemeinsamen Gebet liegt eine besondere Macht.

Mittlerweile hat die national-religiöse Bnei-Akiva-Bewegung ihre Mitglieder weltweit aufgerufen, sich der Fürbitte für die leidende Bevölkerung in Syrien anzuschließen. Die orthodoxen „Bnei Akiva“ sind der israelischen Siedlerbewegung eng verbunden. Ihr Generalsekretär, Danny Hirschberg, meint: „Die israelische Öffentlichkeit muss durch den Schirm von Hass und Feindschaft hindurch den Schmerz der Zivilisten sehen, die von dem syrischen Tyrannen verletzt wurden.“ (pro)

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