Herr Krieg, wie oft haben wir vor Beginn unseres Gespräches schon gelogen?
Die offizielle Statistik besagt, dass Menschen mindestens zwei Mal am Tag lügen, oft ist es noch häufiger. Wenn ich mich Ihnen vorstelle, ist ja die Frage, ob ich Positives oder Negatives weglasse und damit schon lüge. Mein „Guten Morgen“ war auf jeden Fall nicht gelogen (lacht).
Was war für Sie der Anknüpfungspunkt, sich so intensiv mit der Lüge zu beschäftigen?
Mir fehlt in den politischen Diskursen ein positives Zukunftsbild. Insbesondere die AfD und Donald Trump stehen für eine Entwicklung, in der Zukunft nicht mehr als Fortschritt definiert wird, sondern wo es nur noch um die eigenen Interessen geht. Lüge wird zum politischen und ökonomischen Grundprinzip. Und hier müssen wir auf Basis der abendländischen Tradition und des christlichen Menschenbildes einen Gegenentwurf anbieten.
Woran machen Sie das fest?
Ich beobachte, dass die autoritären Systeme weltweit erstarken. Was einst als größtes Freiheits- und Demokratieprojekt galt – das Internet, wie es etwa Google-Chef Eric Schmidt formulierte – schlägt ins Gegenteil um: Aus den Daten, die zunächst gesammelt wurden, um Menschen besser zu verstehen, sind Werkzeuge der Manipulation geworden. Die Lüge wird gezielt eingesetzt, um Macht zu sichern und Menschen zu steuern. Besonders sichtbar wird das bei Figuren wie Donald Trump oder rechten Bewegungen, aber im Kern bedienen sich auch andere extreme Kräfte dieser Mechanismen. Es geht also nicht um eine einzelne Partei oder Person, sondern um ein tieferes Muster: Wahrheit verliert an Wert, und das gefährdet die Idee von Fortschritt und Freiheit. Genau hier braucht es einen Gegenentwurf aus Basis unseres christlich-abendländischen Menschenbildes.
Sie standen einige Jahre beruflich im Dienst des Staates. Wie wurde dort mit der Lüge umgegangen?
Während Gerhard Schröders Kanzlerschaft war ich im Bundesverteidigungsministerium tätig. Die rot-grüne Regierung hatte Angst davor, die notwendige Unterstützung für den Einsatz im Kosovo zu bekommen. Das Ministerium hat damit begonnen, die Öffentlichkeit zu manipulieren. Der Hufeisen-Plan (Anm. d. Redaktion: ein angeblich militärstrategischer Plan zur systematischen Vertreibung der Kosovo-Albaner aus dem Kosovo, dessen tatsächliche Existenz bislang nicht bewiesen werden konnte) wurde erfunden und Kriegsbilder manipuliert. Es wurden bewusst „Fake News“ geschaffen, um die Menschen von dem Einsatz zu überzeugen. Wenn Medien als vierte Macht im Staat ausfallen, dann wird es für einen demokratischen Staat leicht, seine eigenen Wahrheiten zu erfinden und zu deuten.
Wie ging es Ihnen persönlich mit diesen Methoden?
Ich kann mich nicht davon freisprechen, dass ich zunächst stolz war, daran mitzuarbeiten. Viel größere Probleme hatte ich im Nachgang mit den manipulierten Bildern. Das fühlte sich für mich falsch an. Ich hätte mich aber auch nicht an einen Journalisten gewandt, um ihm das zu erzählen. Trotz aller Zweifel war ich loyal.
Was macht eine Lüge aus Ihrer Sicht attraktiv?
Die Lüge ist attraktiv, weil sie uns entlastet. Sie klingt oft einfacher und angenehmer als die Wahrheit, sie erspart Zweifel und schenkt schnelle Gewissheiten. Im Digitalen verstärkt sich das: Algorithmen bedienen uns in unseren Bubbles mit immer denselben Bestätigungen. Man muss sich nicht mehr anstrengen, Widerspruch auszuhalten, sondern bekommt ständig Rückendeckung für das, was man ohnehin schon vermutet oder gefühlt hat. Das gibt Sicherheit und Zugehörigkeit. In Wahrheit ist es ein Fluchtverhalten: Viele Menschen scheuen den offenen Blick in die Zukunft und suchen in Lügen die vermeintliche Rettung in einer Vergangenheit, die es so nie gegeben hat. Gerade deshalb ist die Lüge so gefährlich – sie bestätigt Ängste, verhindert Fortschritt und macht autoritäre Systeme stark.
Die eigenen Anhänger werden zu hörigen Sklaven, die keine andere Meinungen mehr akzeptieren. Das ist der Tod der Demokratie.
Josef Krieg
Die Geschichte von Adam und Eva zeigt, dass die Lüge und das Verständnis von Gut und Böse von Anfang an in uns Menschen angelegt ist. Die Algorithmen der sozialen Medien spülen Lügen und das Skandalöse nach vorne. Es ist aberwitzig, aber Donald Trump nennt seinen eigenen Kanal, auf dem er Lügen verbreitet „Social Truth“. Er braucht keine Pressestelle mehr, sondern kann sich direkt an seine Unterstützer wenden. Trump, Elon Musk und Peter Thiel nutzen diese Plattformen für ihre Ziele und um ihre Gegner zu diffamieren. Die eigenen Anhänger werden zu hörigen Sklaven, die keine andere Meinungen mehr akzeptieren. Das ist der Tod der Demokratie. Demokratie funktioniert nur, wenn sie offene Diskurse ermöglicht. Es ist aber brandgefährlich, wenn viele Menschen das Denken anderen Autoritäten überlassen.
Was kann ich als Einzelner oder die Gesellschaft dem entgegensetzen?
Ich empfehle uns eine „Kultur der Wahrheit“, die auf unseren christlichen Grundtugenden basiert. Wir Menschen sind soziale Wesen und auf Gemeinschaft ausgelegt. Wenn ich das lebe, gehe ich auch anders mit Wahrheit um. In einer Gemeinschaft kann ich nur leben, wenn das Miteinander auf Vertrauen und Wahrheit aufbaut. Wenn jeder den anderen in Familie, Beruf oder Gemeinde anlügt, funktioniert das nicht.
Können wir als Gesellschaft diese Auseinandersetzung gewinnen?
Ich werde immer wieder gefragt, ob die Thesen meines Buches nicht naiv sind oder zu spät kommen. Ich antworte darauf, dass 65 bis 70 Prozent der Deutschen und Europäer überzeugte Demokraten sind. Sie streiten um die bessere Idee, sorgen sich um den Fortschritt der Gesellschaft und stehen dafür ein. Ich appelliere an diese Kräfte, alles zu mobilisieren. Für mich spielt der lokale Journalismus dafür eine wichtige Rolle. Er soll nicht nur berichten, sondern auch Anwalt sein und den Menschen Räume ermöglichen.
Wie gelingt es uns, die übrigen 30 bis 35 Prozent wieder ins Boot zu holen?
Um eine klare Linie zu haben, muss ich gar nicht rechts sein. Mir reicht ein Blick ins Grundgesetz. Dort geht es in den ersten 20 Artikeln um die unteilbare Menschenwürde und die Meinungsfreiheit. Es gab einmal einen Dogmatik-Professor, der alle seine Vorlesungen mit den Worten begonnen hat „Gott ist Liebe.“ Demokraten müssen mit anderen so sprechen, dass sie diese nicht diffamieren. Dafür müssen wir in Schule, Ausbildung und in Unternehmen sensibilisieren. Ein Satz wie „Das wird man doch wohl mal sagen dürfen“ ist dabei wenig hilfreich. Er lädt dazu ein, eine rote Linie zu überschreiten, die für jeden subjektiv ist.

Josef Krieg: „Vom Wert der Lüge. Wie die Wahrheit wieder gewinnt“, Claudius, 176 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-532-62910-9
Auch von den Kirchen haben Sie ganz konkrete Vorstellungen?
Sie müssen definitiv eine stärkere Rolle spielen, auch in Allianzen mit anderen. Die Kirchen sind der wichtigste Partner, weil sie sozusagen der Liebe zur Wahrheit verpflichtet sind. Das ist mein Appell und meine Hoffnung. Wenn ich sehe, was uns Russland, die USA und China zumuten, brauchen wir eine eigene, starke europäische Identität – mit den Kirchen als starke gesellschaftliche Kraft.
Wo steht unsere Gesellschaft in 15 Jahren im Umgang mit Wahrheit und Lüge?
Wir sollten sagen können, dass die Wahrheit gewonnen und sich nicht hat zurückdrängen lassen. Ich wünsche mir eine offene, demokratische und christlich orientierte Gesellschaft, in der nicht das Glück des Einzelnen das Maximum ist, sondern der Einzelne in der Gemeinschaft glücklich ist. Wir haben dann eine europäische Plattformgesellschaft, die es verstanden hat, sich vom Negativ-Algorithmus und der digitalen Verführung zu befreien. Als Christ bin ich grundsätzlich positiv. Das Böse und Negative beschädigt auf Dauer das menschliche Miteinander. Daher müssen wir es auf gute Weise begrenzen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Josef Krieg hat Politikwissenschaften, Katholische Theologie und Philologie studiert. Er bezeichnet sich als „Wanderer zwischen den Welten“. Im politischen Bereich hat er für Heiner Geißler und Angela Merkel (beide CDU) und Stiftungen gearbeitet. Außerdem wirkte er mehrere Jahre an der Neuausrichtung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit und hat Vorstandsmitglieder großer Konzerne beraten. Aktuell ist er Inhaber der Firma „ideas2communicate“ und Gesellschafter des Start-ups „elevengreen“ das sich mit Nachhaltigkeit im Profisport befasst.