Die Kunst des Vergebens

Der deutsche Film tut sich nicht oft durch tiefgreifende Erzeugnisse hervor, meistens handelt es sich bei den Kassenschlagern um flache Komödien. Aber manchmal funkelt ein Juwel auf. Mit dem Regie-Debütfilm „Schuld sind immer die anderen“ des 30-jährigen Lars-Gunnar Lotz ist der deutsche Film um so ein Juwel reicher.
Von PRO
Lars-Gunnar Lotz studierte Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg und schuf bislang nur zwei Kurzfilme. Der 93 Minuten lange Streifen „Schuld sind immer die anderen“ ist sein erster Langfilm. Er wird ab Donnerstag in rund einem Dutzend Kinos in der Republik gespielt.

Christliches Sozialwerk als Vorbild

Der Film handelt von dem jugendlichen Straftäter Ben, der schon einige Delikte auf dem Buckel hat: meistens sind es Raubüberfälle mit großer Brutalität. Einmal schlug er eine Kellnerin zusammen, trat ihr sieben Mal in den Bauch, und das nur, weil sie sich weigerte, ihm noch etwas einzuschenken. An einem Abend überfällt er mit einem Kumpanen eine Frau in ihrem Auto. Sie zwingen sie, 500 Euro von ihrem Konto abzuheben und stehlen ihr Auto. Ben tritt ihr mehrmals in den Bauch.

Ben wird gefasst und kommt ins Gefängnis. Doch ein Sozialarbeiter gibt ihm eine Chance: im Freien Vollzug können straffällig gewordene Jugendliche unter Aufsicht in einer Wohngemeinschaft wohnen. Ben ergreift diese Chance und wohnt von nun an im „Waldhaus Münsingen“, einem Hof auf dem Land. Vorbild war für den Jungregisseur Lotz ein tatsächlich existierendes Haus: das Seehaus Leonberg. Es liegt, ebenso wie Münsingen im Film, in Baden-Württemberg, kaum 70 Kilometer von Münsingen entfernt.

Im christlichen Seehaus Leonberg bei Stuttgart leben Jugendliche von 16 bis 23 Jahren, die an einem Projekt von „Prisma e.V.“ teilnehmen. Ziel der Arbeit sei es, dass die Jugendlichen lernten, Verantwortung zu übernehmen, erklärte der Geschäftsführer Tobias Merckle im Interview gegenüber pro (Ausgabe 5/2011). „Wir wollen Gottes Liebe praktisch weitergeben“, so Merckle. Das Konzept zeigt Erfolg: 75 Prozent der Jugendlichen kommen nicht wieder ins Gefängnis, und bisher konnten alle jungen Leute an Arbeitgeber vermittelt werden.

Lotz und seine Drehbuchautorin Anna Maria Praßler seien durch Zufall auf das Seehaus Leonberg gestoßen, wie der Regisseur sagt. „Hier erleben jugendliche Straftäter häufig das erste Mal, was Familie ist“, sagt er. Sein „Waldhaus“ im Film sei jedoch keine Kopie des Seehauses, gibt er zu Verstehen. Und auch Martina Knödler, Assistentin der Geschäftsführung vom Seehaus Leonberg, erklärt gegenüber pro: „Der Film hat sich vom Seehaus Leonberg inspirieren lassen, aber er stellt uns nicht vollständig dar.“ Lotz habe mit dem Hauptdarsteller einige Zeit im Seehaus verbracht, berichtet sie. Im Film komme der christliche Aspekt der Sozialarbeit jedoch nicht vor. „Bei uns gibt es zum Beispiel jeden Morgen die Möglichkeit, eine Stille Zeit zu haben. Dabei liest ein Jugendlicher mit einem Mitarbeiter in der Bibel. Außerdem beten wir vor jedem Essen, und es gibt sonntags Gottesdienste.“ Alles sei auf freiwilliger Basis, sagt Knödler. „Man kann niemanden zum Glauben zwingen.“ Lotz war von der Sozialarbeit des christlichen Hauses beeindruckt. Im Seehaus Leonberg sei bisher nichts Schlimmes passiert. "Den Jungs wird ja großes Vertrauen entgegen gebracht, welches sie dann zumeist zurückgeben“, stellt er fest.

Schuld sind nicht immer die anderen

Im Film stellt sich heraus, dass die Frau, die Ben vier Monate zuvor überfiel, seine Hausmutter ist: Eva, die Frau seines Sozialarbeiters. Noch schlimmer: Eva war zum Zeitpunkt des Überfalls schwanger, und durch die Tritte verlor sie ihr Kind. In Bens Seele beginnt ein erbitterter, stummer Kampf: Eben jenen Menschen, die ihn so freundlich aufnehmen, hat er unendliche Schmerzen zugefügt. Immer wieder wird in den Gesprächsrunden ausgerechnet das Thema Vergebung thematisiert. Für Ben ist alles erst ganz einfach: Die Kellnerin, der er den Oberkiefer zertrümmerte, hatte sich geweigert, ihm weiter Alkohol zu geben, weil er bereits zu betrunken war. „Ich habe nur reagiert“, lautet Bens Rechtfertigung. Schuld sind eben immer die anderen.

Papst Johannes Paul II. wird den Straftätern als leuchtendes Vorbild gezeigt: Schon kurze Zeit nach dem Attentat auf ihn konnte er seinem Attentäter, der vier Kugeln abfeuerte, vergeben. „Das schafft auch nur der Papst. Das schaffe ich nie“, sind viele Jugendliche überzeugt. Eva, die erst später herausfindet, dass Ben der vermummte Täter war, der sie überfiel, erklärt den Jugendlichen: „Wenn ihr ehrlich bereut, dann habt ihr eine echte Chance darauf, dass das Opfer euch verzeiht.“ Doch ist sie selbst zur Vergebung bereit?

In seiner Verzweiflung versucht Ben, auf Umwegen sein Gewissen zu erleichtern. Ben muss eine wichtige Lektion lernen: Vergebung kann einem nur die Person aussprechen, an der man sich schuldig gemacht hat. Versucht man es bei einer anderen Person, werden die Probleme nur noch schlimmer. Denn dann gibt es jemanden, der einen erpressen kann. Eine weitere Lektion, die der Film „Schuld sind immer die anderen“ erteilt: Die Kunst des Vergebens besteht nicht nur darin, andere um Vergebung zu bitten. Die Kunst liegt auch darin, zu vergeben.

Sohn eines Pfarrers

Der „Tagesspiegel“ lobt die „fast schon Shakespearesche Wucht“ des Films – völlig zu Recht. Lob gebührt dabei auch der 29-jährigen Drehbuchautorin Anna-Maria Prassler. „Schuld sind immer die anderen“ ist die Verfilmung ihres ersten Langfilmdrehbuchs. Beeindruckend ist zudem die Leistung der Schauspieler. Mit Edin Hasanovic als Ben habe er einen absoluten Glückstreffer erzielt, sagt Lotz. „Er hat so eine wuchtige Präsenz und gleichzeitig ein sehr zartes und feingliedriges Spiel.“ Julia Brendler verleiht der Sozialarbeiterin Eva eine wunderbare Wärme und zugleich jene innere Kraft, die für ihren Job notwendig ist. Der Film soll auf DVD herauskommen und im Laufe des Jahres auf ARTE und dem SWR zu sehen sein, teilt der Regisseur mit. Außerdem wird er Ende des Jahres bei den Schulkinowochen eingesetzt.

Lotz selbst stammt aus einem christlichen Elternhaus. Sein Vater ist Pfarrer, er selbst ist gläubig, wie er gegenüber pro sagt. „Ich lasse mich aber ungern von einer bestimmten Glaubensrichtung vereinnahmen und möchte auch nicht als christlicher Filmemacher dargestellt werden“, erklärt Lotz. „Und es gibt auch vieles an der Kirche, was mir so gar nicht passt." Aber gläubig oder nicht, ein deutscher Film, in dem das Thema Vergebung so tiefgründig und fesselnd behandelt wird, ist ein Lichtblick. Dem Streifen ist ein breites Publikum zu wünschen, und dem Regisseur noch viele weitere gute Drehbücher. Wenn schon das Regiedebüt so ergreifend ist, wird sich Lotz, der in Bad Ischl, Österreich, geboren wurde und im Rheinland aufwuchs, schon bald mit bekannten Vertretern des ernsthaften deutschsprachigen Films wie Hans Weingartner („Die fetten Jahre sind vorbei“), David Wnendt („Kiregerin“) oder Dominik Graf („Der Felsen“) vergleichen lassen können. (pro)

"Schuld sind immer die anderen", 93 Minuten, Start: 28. Februar 2013 in ausgewählten Kinos in Deutschland, Regie: Lars-Gunnar Lotz, Produktion: FFL Film- und Fernseh-Labor Ludwigsburg
http://www.schuld-film.de/
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