PRO: Frau Bethke, was war der schlimmste Gottesdienst, den Sie jemals besucht haben?
Hannah Bethke: Leider gibt es dafür nicht nur ein Beispiel. Ich habe zahlreiche Gottesdienste erlebt, die ich misslungen fand. Was mich am meisten stört, sind diese alltagsnahen Predigten, die auf irgendwelche Belanglosigkeiten heruntergebrochen werden. Die Botschaften sind meistens seicht und inhaltsleer. Mit der eigentlichen Tiefe der biblischen Geschichten haben sie nicht mehr viel zu tun.
Sie nennen das Banalisierung der Theologie.
Ja, ein Beispiel sind diese Anekdoten und Selbstreflexionen aus dem Privatleben der Pastoren. Da geht es um Alltagserlebnisse beim Essen oder Aufräumen, wirklich profane Dinge, die als Anschauung dienen sollen, wie sich der Glaube an Gott hier angeblich zeigt. Als säße Jesus bei ihnen am Frühstückstisch. Der Sinn solcher Banalisierung ist wohl, möglichst „nah am Menschen“ zu sein und die Leute dort, wo sie sind, „abzuholen“. Es zeigt aber eigentlich nur, wie wenig Denkvermögen die Kirche den Menschen offenbar zutraut.
Was nützt eine Predigt über Entrückung und Babylon, wenn niemand die Worte versteht?
Natürlich muss niemand hochkomplexe theologische Exegesen von der Kanzel herab predigen. Aber man kann sehr wohl von Gott und vom christlichen Glauben in einer Sprache sprechen, die viele verstehen, ohne dass man die Religion verweltlicht. Die Geschichten der Bibel können dabei helfen, die Sprache des Glaubens wieder zu erlernen. Oftmals habe ich den Eindruck, die Kirchenvertreter glaubten selbst nicht mehr daran, dass sie Menschen mit religiösen Inhalten noch erreichen können. Die Kirche steckt in einer Identitätskrise, das wird darin sehr deutlich.
Was Sie banal nennen, ist für Menschen, die neu in eine Kirche kommen, vielleicht eine bahnbrechende Botschaft: Gott begleitet dich im Alltag.
Für Profanisierung braucht es keine Theologen. Ich wünsche mir, dass Geistliche mir die Botschaften der Bibel aufschlüsseln. Massentaugliche, inhaltsleere Wohlfühlspiritualität kann auch eine Achtsamkeits-App. Wenn man die Menschen heute fragen würde, wofür die evangelische Kirche eigentlich steht, würden wohl sehr viele sagen, sie leiste wichtige soziale Arbeit und sei in migrations- und klimapolitischen Fragen von Bedeutung. Aber die wenigsten könnten wahrscheinlich sagen, was die evangelische Kirche unter christlichem Glauben versteht.
„Infantil, oberflächlich, theologisch ausgehöhlt, kenntnislos, banal.“
Großes Magengrummeln machen Ihnen auch die Rundfunk-Andachten. Die allerdings erreichen regelmäßig Tausende, das „Wort zum Sonntag“ sogar über eine Million. Ist das nicht begrüßenswert?
An sich finde ich das absolut begrüßenswert. Denken Sie nur an die Formate im Radio: Was für eine tolle Möglichkeit hat die Kirche hier! Die Andachten werden morgens in der Primetime gesendet, und die Kirchen könnten damit auf ganz andere Weise Menschen erreichen, als das in regulären Gottesdiensten der Fall ist. Stattdessen sind die meisten Andachten erschütternd infantil, oberflächlich, theologisch ausgehöhlt, kenntnislos, banal. Ich kann darüber nur den Kopf schütteln.
Ihre Mutter war Religionslehrerin, Ihr Vater Pastor. Was glauben Sie selbst heute?
Ich bin mit dem Glauben und der Kirche aufgewachsen, das war für mich selbstverständlich. Was ich mir davon erhalten habe, ist eine tiefe Dankbarkeit für das Leben, ein Bewusstsein dafür, dass dieses Leben endlich ist und dass es etwas gibt, das größer ist als wir selbst. Der christliche Glaube lehrt uns, demütig zu sein. Eine solche Demut fehlt unserer Gesellschaft heute.
Sie streiten so vehement für eine Bekenntniskirche, dass man meinen könnte, sie wären Missionarin.
Ich bin natürlich keine Missionarin, aber die Kirche ist mir persönlich sehr wichtig. Sie ist eine unersetzbare Institution für die Gesellschaft. Ich würde niemals aus der Kirche austreten, auch wenn ich mit vielen Dingen nicht einverstanden bin. Die Kirche kann Gemeinschaft stiften. Sie kann ein Ort der Einkehr sein, der Unterbrechung und Ruhe. Das ist etwas, was unsere stark individualisierte Gesellschaft ganz dringend bräuchte. Stattdessen befeuert die Kirche politisierte Diskussionen, die wir überall in der Gesellschaft haben.
Die Kirche war schon immer politisch. Jesus war politisch. Sollte sie sich nicht gerade als ethischer Mahner äußern?
Die Kirche existiert natürlich nicht in einem apolitischen Raum. Sie ist ein Produkt der Gesellschaft und als solches politisch. Sie hat eine Wächterfunktion und muss sich zu ethische Grenzfragen wie Sterbehilfe oder Organspenden äußern. Das ist aber etwas völlig anderes, als selbst zum politischen Akteur zu werden und sich in parteipolitische Belange einzumischen. Das war etwa kurz vor der Bundestagswahl der Fall, als die Kirche die migrationspolitischen Vorhaben der CDU/CSU so scharf kritisiert hat. Ich halte solche Interventionen der Kirche für schädlich. Denn sie schließt damit alle aus, die ihre politische Position nicht teilen. Kirche muss integrieren, nicht spalten. Sonst verfehlt sie ihren Auftrag.

Hannah Bethke
Hannah Bethke ist Redakteurin für Innenpolitik der „Welt“ und „Welt am Sonntag“. Zuvor arbeitete sie für „Zeit online“, die „Neue Zürcher Zeitung“ oder die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Sie ist 45 Jahre alt und lebt in Berlin. Anfang des Jahres erschien ihr Buch „Vom Glauben abgefallen“ im Verlag Kösel.
Die neue Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) hat rund um Ostern für großen Tumult gesorgt, weil sie ähnliches erklärt hat.
Ich fand diese riesige Aufregung nicht nachvollziehbar. Julia Klöckner hat lediglich davor gewarnt, die Kirche könne austauschbar werden, wenn sie ihren eigentlichen Auftrag vernachlässigt und ständig zu tagesaktuellen Themen wie dem Tempolimit Stellung bezieht – was die Kirche ja tatsächlich tut. Daraufhin haben sich vor allem jene aufgeregt, die Klöckner parteipolitisch ablehnen. Die Kirche diente da nur als Instrument, die eigene Weltanschauung zu bestätigen. Die eigentliche Aussage von Klöckner wurde dagegen nicht debattiert, dabei ist sie essenziell: Was würde es denn bedeuten, wenn die Kirche austauschbar wird?
„Es gibt eine deutliche Schlagseite nach links – und das sollte man auch dann als Problem wahrnehmen, wenn man selbst links ist.“
Hannah Bethke
Ist Ihnen die Kirche vielleicht einfach nicht konservativ genug?
Ich sehe durchaus ein Problem darin, dass Konservative in der evangelischen Kirche eigentlich keine Heimat mehr haben. Es gibt eine deutliche Schlagseite nach links – und das sollte man auch dann als Problem wahrnehmen, wenn man selbst links ist.
Sie kritisieren auch die Art und Weise, wie die Kirche die AfD delegitimiert, und zwar mit dem Hinweis auf die Pflicht zur parteipolitischen Neutralität. Heißt das, es sollte einem AfD-Mitglied möglich sein, eine Gemeinde zu leiten oder im Gemeindekirchenrat aktiv mitzugestalten?
Zunächst einmal würde ich nicht sagen, die Kirche delegitimiere die AfD. Tatsächlich sehe ich aber ein Problem darin, wenn AfD-Mitglieder von Ämtern der Kirche ausgeschlossen werden. Ich will in keiner Weise die AfD schönreden oder verharmlosen. Ich halte diese Partei politisch für gefährlich und finde es richtig, dass die Parteien der demokratischen Mitte an der sogenannten Brandmauer zur AfD festhalten. Die Kirche hat hier aber eine andere Aufgabe. Als Haus Gottes muss sie allen Gläubigen offen stehen, unabhängig von ihrer politischen Auffassung. Wenn sie von diesem Grundsatz einmal abrückt und plötzlich nach Parteibuch sortiert, bringt sie sich in Teufels Küche. Denn wie will sie es etwa rechtfertigen, dass AfD-Mitglieder in der Kirche kein Ehrenamt bekleiden dürfen, Mitglieder der Linkspartei, deren Vorgängerpartei die Kirche systematisch zerstören wollte, dagegen schon? Die Kirche muss die AfD aushalten, genauso wie unsere Demokratie sie gerade aushalten muss. Wenn diese Leute ausgeschlossen werden, führt das nur zu einer weiteren Radikalisierung.
Frau Bethke, was war der schönste Gottesdienst, in dem Sie jemals waren?
Ich erinnere mich an einen besonders schönen Gottesdienst am Totensonntag. Der Pastor hat eine sehr gute Predigt gehalten, umrahmt von schöner Kirchenmusik. Wie am Totensonntag üblich, gingen die Besucher des Gottesdienstes in den Altarraum und zündeten Kerzen für die Verstorbenen an. Manche haben geweint. So etwas in Gemeinschaft zu erleben, ist etwas völlig anderes, als wenn man allein zu Hause in seinem Wohnzimmer sitzt und um jemanden trauert. Das hat eine Qualität und eine Kraft, das kann nur die Kirche.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Bethke!
Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 4/2025 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Abonnieren Sie PRO kostenlos hier.