Eigentlich ist das „Blame game“ gegen eine zu politische Kirche leicht zu durchschauen: Es beschwert sich immer die Seite, der die Bischöfe, kirchliche Verbindungsbüros zum Staat, Synoden oder Kirchentagsprediger gerade in die Quere gekommen sind. Nach der Kritik von Prälatin Anne Gidion (EKD) und Prälat Karl Jüsten (DBK) Ende Januar am Entschließungsantrag der Unionsfraktion zur Migration unter Inkaufnahme von Stimmen der AfD schäumten Konservative gegen „politische Einmischung“ und Einseitigkeit der Kirchen. Nach den bischöflichen Ermahnungen, keine Richterin mit einer zu liberalen Haltung im Abtreibungsrecht ins Verfassungsgericht zu wählen, verwahrten sich Linke wie SPD-Fraktionschef Matthias Miersch gegen „unchristliche“ Beiträge katholischer Würdenträger zur „Hetzjagd“ gegen die Staatsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf. Politisch sein dürfe die Kirche schon, aber nicht so. Medien-Kommentatoren wie Felix Bohr im „Spiegel“ stimmten ein: Die Nominierung einer Verfassungsrichterin gehe „die katholische Kirche nichts an. Zum Glück“.
Irrtum! In einem freien Land muss sich niemand, keine Gruppe, auch keine Religionsgemeinschaft aus der Politik heraushalten – und somit auch nicht aus der politischen Wahl eines politiknahen und grundrechtsrelevanten Gerichts. Die Res Publica geht alle an. Der autoritäre Ton im „Sturmgeschütz der Demokratie“, als welches sich der „Spiegel“ seit Rudolf Augstein gern sieht, ist verstörend. Zum Antiliberalen, Autoritären sind eben nicht nur strukturell die Rechten begabt, sondern auch Linke. Zum antikirchlichen Ressentiment sowieso. Es wirkt heute allerdings etwas aus der Zeit gefallen. Denn schlauere Linke haben längst begriffen, dass die Kirchen angesichts der grassierenden Verrohung, des rabiaten Wohlstandsegoismus und der Rechtsradikalisierung im Lande zu den letzten Dämmen einer humanen, empathischen und moderaten sozialen und politischen Kultur gehören. Prominente linke Zeugen dafür sind zahlreich, von Joschka Fischer bis Gregor Gysi.
Doch nun, wo es um die Menschenwürde, das Lebensrecht und die staatliche Schutzpflicht für vorgeburtliches menschliches Leben geht, klöcknert es ausgerechnet dort, wo man die Kritik der Bundestagspräsidentin an zu politischen Kirchen eben noch als übergriffig zurückwies. Im PRO-Interview hatte die Christdemokratin erklärt: „Je tagespolitischer Kirche wird, desto mehr wird sie schließlich als Partei wahrgenommen… Der Kern der Relevanz einer Kirche liegt nicht in ihrer allgemeinpolitischen Betätigung… Kirche darf niemanden im Streit um politische Auffassungen verlieren.“ Ein Ausweichen von Klerikern vor schwierigen, dem säkularen Zeitgeist spekulativ anmutenden Glaubenslehren durch Flucht auf politische Ersatzfelder, wo Probleme greifbarer und Verbündete leichter zu finden sind, ist tatsächlich eine Versuchung schrumpfender und verunsicherter Kirchen. Insofern: d’accord!
Kirchen äußern sich in alle Richtungen
Aber: Erstens: Was soll „tagespolitisch“ heißen? Etwa dass in aktueller, operativer Politik keine christlich-ethischen Fragen auftauchen, die Kirchen herausfordern? Klöckners Glaubensgemeinschaft beansprucht im Zweiten Vatikanischen Konzil für die Kirche, „ihre Soziallehre kundzumachen“ und „auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen“. Ziemlich viele politische Fragen haben einen Grundrechtsbezug, und sein Seelenheil kann man nicht nur im privaten Raum gefährden, sondern auch in Gesellschaft und Staat, durch Tun und Unterlassen. Die Geschichte ist voller Beispiele. Leider auch die Kirchengeschichte.
Zweitens: Was meint Klöckner mit „allgemeinpolitischer Betätigung“? Doch wohl nicht, dass ganze Politikbereiche moralfreie Zonen seien, tabu für die Kirchen, die bloß „spezialpolitisch“ gefragt seien? Wenn Kirchen „als Partei“ gesehen zu werden, drohen: Als welche denn? Für den Protestantismus mag ja eine hohe Kongruenz mit Positionen der SPD und der Grünen sichtbar werden, bei der katholischen Kirche aber sicher nicht. Fallen kirchliche Voten nicht je nach Thema – bei konfessioneller Differenz – mal konservativ, oft sozial, zu Recht ökologisch (Bewahrung der Schöpfung) und im Zweifel liberal aus, weil die personale Freiheit nun mal aus der Menschenwürde folgt und biblisch verankert ist (Gal 5,13)? Werden die Kirchen nicht für jede Partei irgendwo mal unbequem? Hätten wir derart politisierte Kirchen, wie Klöckner meint, dann würden laut der Allensbach-Umfrage für die „Pro“ wohl mehr als nur 23 Prozent der Deutschen politisches Einflussstreben als Merkmal des Christentums wahrnehmen.
Drittens: Warum sollte eine dem Evangelium treue Kirche durch die ihr obliegende Unterscheidung der Geister nicht auch jemanden „im Streit verlieren“? Erlebte das nicht Jesus selbst? Oder einst die Bekennende Kirche? Bloßes „Beieinanderbleiben“ ist nicht das höchste Kriterium gelingenden Kirche-Seins. Kuscheligkeit kann man woanders haben. Möglichst viele Interessen und Wünsche zufriedenzustellen und wenig anzuecken, ist nicht der Sinn von Nachfolge im biblischen Sinn.
Psychologisch gesehen ist nachvollziehbar: Menschen wünschen sich Bestätigung. Widerspruch und Konflikt lösen kognitive Dissonanzen aus. Und die sind dort besonders lästig, wo man sich einfach nur zuhause fühlen will, Harmonie, Erbauung, Trost und „seelische Erhebung“ sucht. Ein solcher Raum ist für „praktizierende“ Christen auch ihre Kirche und Gemeinde. Gerade eine schrumpfende Religionsgemeinschaft kann Politik als zusätzlichen Spaltpilz fürchten. Sind nicht Theologie und Glaubensfragen oft schon strittig genug? Da liegt der deutsche Reflex: „Ein politisch Lied, ein garstig Lied!“ (Hoffmann von Fallersleben, 1842) nahe.
Unsere Gesellschaft braucht christliche Werte
Gewiss ist eine Kirche gut beraten, sich im politischen Raum auf Themen mit hoher ethischer Relevanz und Dringlichkeit zu konzentrieren – und diese, fundiert durch den Sachverstand christlicher Wissenschaftler und Praktiker, differenziert durchzuargumentieren und auf biblische Kriterien hin transparent zu machen. Insofern war es unglücklich, dass der Bamberger Erzbischof Herwig Gössl die Personalie Brosius-Gersdorf als „innenpolitischen Skandal“ einsortierte, statt ruhig und klar die (christlich-) ethischen Bedenken gegen Positionen der Juristin zu äußern. Überschießende Schärfe und Empörung prägen unsere Debatten schon inflationär und stehen einer Kirche ebenso schlecht zu Gesicht wie das betretene Schweigen aus der EKD. Hinter die gemeinsame Erklärung der Kirchen: „Gott ist ein Freund des Lebens“ (1989) ist das ökumenische Zeugnis in bioethischen Fragen inzwischen leider zurückgefallen.
Gössls Aussage beim Fest zu Ehren des Bamberger Bistumsgründers Heinrich: „Ich möchte mir nicht vorstellen, in welchen Abgrund der Intoleranz und Menschenverachtung wir gleiten, wenn die Verantwortung vor Gott immer mehr aus dem Bewusstsein der Menschen verschwindet“ muss allerdings nicht auf Brosius-Gersdorf persönlich bezogen werden, wie sie es selbst bei Markus Lanz tat und den Erzbischof gleich noch zur Verfassungstreue ermahnte. Es handelt sich vielmehr um einen alten Topos europäischer Geistesgeschichte, den etwa auch Nobelpreisträger Werner Heisenberg 1967 in „Der Teil und das Ganze“ vertrat: „Wenn man in dieser westlichen Welt fragt, was gut und was schlecht, was erstrebenswert und was zu verdammen ist, so findet man doch immer wieder den Wertmaßstab des Christentums auch dort, wo man mit den Bildern und Gleichnissen dieser Religion nichts mehr anfangen kann. Wenn einmal die magnetische Kraft ganz erloschen ist, die diesen Kompass gelenkt hat – und die Kraft kann doch nur von der zentralen Ordnung her kommen –, so fürchte ich, dass sehr schreckliche Dinge passieren können.“
Eine Formel oder feste Grenzwerte für politische Interventionen der Kirchen lassen sich nicht ermitteln. Es kommt auf den Einzelfall und alle Umstände des Themas und der Debatte an, auch auf die politische Großwetterlage: In Schönwetterperioden, in denen weder das System des demokratischen Rechtsstaats noch Grundrechte wesentlich bedroht sind, kann eine Kirche sich eher politisch zurückhalten und sich auf ethische Einzelfragen konzentrieren. In einer Zeit multipler, gravierender Krisen und extremistischer Angriffe auf die menschenwürdige Ordnung der liberalen Demokratie müssen sich Kirchen eher mehr als weniger im Staat zu Wort melden.
Im Gottesdienst ist allerdings in der Regel zu politischer „Diät“ zu raten, aus Gründen des Glaubens wie der Vernunft. Politik oder Kirchenpolitik in Liturgien hinein zu panschen, um die heilige Handlung „aufzupeppen“, in die Medien zu kommen oder sich auf der „Höhe der Zeit“ zu zeigen, wäre ein kurzsichtiges Kalkül. Man riskiert damit, das Evangelium der Unglaubwürdigkeit preiszugeben bei jenen, die andere politische Schlüsse ziehen und nutzt den Kommunikations- und Machtvorteil des Zelebranten aus, ohne dass unmittelbare Gegenrede möglich ist. Ganz abgesehen vom Risiko zu dilettieren, denn politische Wissenschaft und Klugheit werden weder bei bei Ordination und Weihe noch bei der Bestellung für andere liturgische Dienste mit übertragen.
Kirchliche Stellungnahmen zur internationalen, zur Bundes- oder Landespolitik haben ihren besten Platz in übergeordneten Gremien wie Synoden, Diözesanräten und dem katholischen Zentralkomitee, dem EKD-Rat und der Bischofskonferenz, in deren Beratungen eine breite und interdisziplinäre Expertise einfließt. Das ist nötig, weil die Anwendung von Prinzipien und Normen der christlichen Sozialethik realistische Lageanalysen und Zweck-Mittel-Kalkulationen voraussetzt, um zu fundierten Positionen zu gelangen. Politische Predigten Einzelner oder geschwätzige Fürbitten zur Weltlage erinnern hingegen manchmal an Jesu Mahnung: „Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden.“
Der Forderung, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, entspricht der Grundsatz der „iusta autonomia“, der rechten oder „relativen Autonomie der Kultursachbereiche“ im Konzilsdokument „Gaudium et spes“ (36): „Durch ihr Geschaffensein haben alle Einzelwirklichkeiten ihren festen Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihre Eigengesetzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methoden achten muss“ – was hinsichtlich des Staates bedeutet: „Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom“. Ob ein Thema zur Kompetenz-und Verantwortungsschnittmenge von Staat und Kirche gehört, ist sorgfältig zu prüfen.
Zwischen Selbstsäkularisierung und „Sakristeichristentum“
Neben einem allzu diesseitigen Missverständnis des Glaubens mit kirchlicher Selbstsäkularisierung und übergriffigem Politisieren gibt es auch das jenseitige Missverständnis eines „Sakristeichristentums“, das völlig abhebt vom Zustand der Schöpfung und des Gemeinwesens, von der Not der menschlichen Kreatur und ihrer Aspiration, schon etwas zu spüren vom angebrochenen Reich Gottes. In der Rede von „himmelschreiender“ Ungerechtigkeit leuchtet auf, dass sich „Christozentrik“ nicht gegen „Anthropozentrik“ ausspielen lässt. Ein Schöpfer, der den Menschen nach seinem Abbild, „nur wenig geringer als Gott“ (Ps 8), schuf, der in Jesus selbst Mensch wurde und sich am Kreuz für die Menschen hingab, der eine den „geringsten Brüdern“ erwiesene Liebe als Dienst an sich selbst qualifizierte (Mt 25,40), der hat eine so anthropozentrische Agenda, dass Kirchen ihn durch eine ebensolche schwerlich missachten können. Deshalb auch Alfred Delps Überzeugung: „Es wird kein Mensch an die Botschaft vom Heil und vom Heiland glauben, solange wir uns nicht blutig geschunden haben im Dienste des physisch, psychisch, sozial, wirtschaftlich, sittlich oder sonstwie kranken Menschen“.
Bei aller politischen Wachheit und Mitsprache muss aber klar bleiben: „Der Staat lebt nicht nach den Weisungen der Kirche, sondern von den Früchten ihrer geistlichen Existenz“ (Hermann Ehlers, 1953).
Die wichtigste Leistung der Kirche für den Staat besteht darin, „dass sie ihren Raum als Kirche behauptet und ausfüllt… Keine direkte Aktion, die sie, in wohlmeinendem Eifer selber halb oder ganz politisch handelnd, unternehmen und durchführen könnte, könnte auch nur von Ferne mit der positiven Relevanz derjenigen Aktion verglichen werden, in der sie, ganz apolitisch, ganz ohne Eingriff in die staatlichen Belange,…den Glauben verkündigt: die rechte schriftgemäße Predigt und Unterweisung und… Verwaltung der Sakramente“ (Karl Barth, 1938).
Ohne geistliche Tiefe und Kraft drohte das politische Engagement der Kirchen uninspiriert, rückgratlos und bei Gegenwind opportunistisch zu werden- schales Salz, „von den Leuten weggeworfen und zertreten“ (Mt 5,13).