„Die gehetzte Politik“ in Zeiten digitaler Überall-Medien

Die „vierte Gewalt“ der Medien hetzt Politiker und führt zu einer Krise der deutschen Politik. Diese These stellen die Herausgeber des Buches „Die gehetzte Politik“, Bernhard Pörksen und Wolfang Krischke, auf. In 27 Gesprächen gehen Politiker, Journalisten und Intellektuelle der Frage nach, inwiefern die Veränderungen in der Medienlandschaft die Politik beeinflussen.
Von PRO

Manipulieren die Medien mit ihrer Echtzeitberichterstattung die Politik? Diktieren sie ihr den Rhythmus? Hetzen sie sie, oder regieren sie sie sogar? Sind sie schuld an der Diktatur internationaler Finanzmärkte, am Lobbyismus in Büros, und an den Affären und Rücktritten in der Politik?

Das Buch „Die gehetzte Politik“ ist kein Buch der fertigen Antworten. Vielmehr gibt es in seinen Interviews Denkanstöße und liefert Hintergrundinformationen. Für die im Herbert von Halem Verlag erschienene Interviewsammlung über die Krise der Republik befragten 23 Tübinger Studierende Spitzenpolitiker, einflussreiche Journalisten und Kritiker der politischen Elite. Engagierte, erhellende, provokative und irritierende Antworten sind das Ergebnis.

Hetzjagd der Medien auf die Politik

Die Medien beobachten und beurteilen Politiker und ihre Entscheidungen permanent. Wir erleben „unter dem Einfluss der digitalen Revolution und der Finanzkrise eine neue Macht der Medien und Märkte, die politische Akteure gegenwärtig zunehmend in die Defensive zwingt“, schreiben die Herausgeber Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, und Wolfgang Krischke, freier Journalist für Tageszeitungen wie Frankfurter Allgemeine Zeitung und Zeit. Politiker könnten einem leidtun, weil sie den Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht gerecht würden. Die digitalen Überall-Medien durchdringen heute den politischen Alltag, niemand könne sich den Daten- und Nachrichtenströmen entziehen. Ein publizistischer, Europa verändernder „Klimawandel“ sei im Gange.

Walter Kohl beschreibt zum Beispiel, was für eine enorme Macht die mediale Berichterstattung über Politiker hat. Seine Familie sei durch ein „mediales Fegefeuer“ gegangen: „Manche Journalisten haben  uns regelrecht verfolgt.“ Journalisten wünschten einen Einblick in das Privatleben von Politikern. Kohl fordert jedoch von Journalisten die Fähigkeit, klare Grenzen zwischen Beruf und der Privatsphäre von Politikern ziehen zu können. Auch FDP-Fraktionsvorsitzender Wolfgang Kubicki stimmt zu: „Überall haben die Wände Ohren. Alles, was man sagt, kann sofort gegen einen verwendet werden.“

Politik im Online-Rhythmus

Kohl hat den Eindruck, dass sich die Politik durch die neuen Medien und Kommunikationsmittel noch mehr beschleunigt: „Man ist ständig erreichbar und es wird erwartet, dass man auch immer abrufbereit ist.“ Die Herausgeber des Buches sehen ein „überhitztes“ System: Die Beschleunigung des medialen Informationsausstoßes setze Journalisten und Politiker gleichermaßen unter Zugzwang. Dies verstärke den Eindruck der Atemlosigkeit, des Getriebenseins und einer letztlich planlosen Raserei.

Diese Ansicht teilt auch Stefan Niggemeier, Mitgründer des BILDblogs: „Der permanente Rechtfertigungsdruck und die Schwierigkeit, ihm auch mal zu widerstehen, haben sich für die Politik eindeutig verstärkt. […] Sobald eine Meldung veröffentlicht wurde, beginnen die Redakteure an der Folgemeldung zu arbeiten, die erste Reaktionen enthält, und bald muss schon die dritte Meldung folgen, die das Thema noch weiter dreht.“ Diese medial erzeugte Dynamik erhöhe die Erwartung an die Politiker, sich dauernd zu erklären und Ergebnisse vorzuweisen. Die Medien hätten den Politikbetrieb in eine einzige „Kompetenzsimulierungsmaschine“ verwandelt. Kubicki sagt: „Die Online-Medien machen alles kaputt: Es kommt nicht mehr darauf an, was sie transportieren, sondern nur noch darauf, dass sie die Ersten sind. […] Alle treiben sich gegenseitig an.“

Die dunklen Seiten des Internets: Ein nie verzeihendes Gedächtnis

Die Studenten, die die Prominenten befragt haben, bezeichnen das Internet als „gigantischen Gedächtnisspeicher von geradezu erschreckender Tiefe“. „Google vergisst nichts“, schreiben sie. Die dunklen Seiten des Internets rührten von seinem unbarmherzigen Gedächtnis, das jeden Fehler und jedes Missgeschick tausendfach im Internet für die Nachwelt speichere. Niggemeier kommentiert, es liege in der Verantwortung der Gesellschaft, im Umgang mit dem Internet zivil und angemessen zu bleiben. Es habe sich bereits eine Medienverdrossenheit über die Hetzjagd der Journalisten entwickelt.

„Heute journal“-Moderatorin Marietta Slomka bestätigt: „Heutzutage muss ein live interviewter Politiker [aber] damit rechnen, dass schon ein einziger unglücklich formulierter Satz, ein zu schnell gemachtes Versprechen blitzschnell ins Netz gestellt, dort verbreitet und auf ewig gespeichert werden kann.“ Das politische Geschäft sei schwieriger geworden: „Wenn man damit rechnen muss, dass Informationen aus Hintergrundgesprächen in die Welt hinaus getwittert werden, dann hält man sich zurück und wählt seine Worte mit viel Bedacht.“                                                                                                                                                           
Hoffnung Internet: Es ist nicht alles schlecht

Das Buch stellt den negativen Seiten aber das Gute am Internet gegenüber. Per Twitter, Chat oder Videobotschaft ist Politikern der Direktkontakt zum Bürger möglich. Online-Journalismus sei nicht zwangsläufig flach, er könne durchaus auch in die Tiefe gehen, gesteht Niggemeier dem Internet zu. Im Idealfall könne ein Artikel einer Online-Zeitung mit vielen Quellen und Archivartikeln verlinkt werden, sodass informative Dossiers entstehen.

Außerdem ergänzen sich klassische und neue Medien. Das Internet entfaltet sein meinungsbildendes Potenzial nicht im Alleingang, sondern vor allem im Verbund mit den klassischen Medien als Beschaffer, Beschleuniger und Verteiler von Informationen und Zitaten. Niggemeier erklärt: „Klassische Medien decken ein breites Themenspektrum ab für Leute, die sich informieren wollen, ohne sich bis in kleinste Details vertiefen zu müssen. Blogger dagegen leisteten genau das; manche Blogs setzten sich gründlicher mit Themen auseinander als klassische Medien. Internetdiskussionen, die dadurch ausgelöst werden, seien nicht nur Skandalisierungstreiber; sie haben oft eine aufklärerische Funktion und gehören zu den Selbstreinigungskräften einer demokratischen Gesellschaft.

Medien und Politik: eine Hassliebe?

Letztendlich wird es immer positive und negative Erfahrungen im Umgang mit „den“ Medien geben. Für Walter Kohl ist das Fehlverhalten einiger Journalisten kein Grund, die Medien insgesamt zu verteufeln, denn es gebe „die“ Medien nicht, es gebe nur unterschiedliche Vertreter.

Alles in allem ist „Die gehetzte Politik“ eine kurzweilige, unterhaltsame, lesenswerte Gesprächssammlung, die einen Blick hinter die Kulissen von Macht und Einfluss wirft und die Beziehung zwischen Medien und Politikern als eine wechselhafte und ambivalente Hassliebe aufzeigt. (pro)

Bernhard Pörksen / Wolfgang Krischke (Hrsg.): „Die gehetzte Politik. Die neue Macht der Medien und Märkte“, Herbert von Halem Verlag, 362 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 9783869620794

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