Die Muslimbrüder in Ägypten waren verfolgt, regierten und sind nun erneut illegal. Doch wie wird sich die islamistische Organisation nach den Todesurteilen für Hunderte ihrer Mitglieder entwickeln? Die Journalistin Petra Ramsauer hat ein Buch über Vergangenheit und Zukunft der Bruderschaft geschrieben. Eine Besprechung von Anna Lutz
Mohammed Mursi war der Star der Muslimbruderschaft in Ägypten – nun stehen Glaubensgeschwister im ganzen Land vor Gericht
Die einen nennen sie gefährliche Islamisten, die anderen vergleichen sie mit christlichen Parteien in Europa: Die Muslimbruderschaft gibt der Welt Rätsel auf, und das nicht erst seit dem Putsch gegen den ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi im Juli des vergangenen Jahres. Nun wurden über 500 Muslimbrüder von einem ägyptischen Gericht zum Tode verurteilt. Nimmt man das im März erschienene Buch „Muslimbrüder“ der Journalistin Petra Ramsauer ernst, könnte das zur Radikalisierung der Gruppe führen. Das wiederum beträfe nicht nur Ägypten – denn das Netzwerk der Brüder agiert weltweit, geheim und strategisch.
Mordanschläge und Gewaltverzicht
Natürlich konnte Ramsauer, die für deutschsprachige Medien über den Arabischen Frühling berichtete, noch nichts von den Todesurteilen wissen, als sie ihr Buch im vergangenen Jahr abschloss. Dennoch lässt sich mit ihrer Hilfe über die Fortentwicklung der Gruppe spekulieren – denn der Putsch und die Urteile waren nicht die erste Niederlage, die die Islamisten einstecken mussten. In der Tat haben sie in Ägypten seit ihrem Entstehen in den 1920er Jahren eine Berg- und Talfahrt politischer Macht erlebt, wie Ramsauer beschreibt. Bereits nach einem Mordanschlag eines Muslimbruders auf Präsident Gamal Nasser im Jahr 1954 wurden die Kader der Bewegung inhaftiert und teilweise exekutiert. In den 70er Jahren beruhigte sich das Verhältnis zwischen Militär und Muslimbrüdern, bis zum Arabischen Frühling. Dennoch war die Gruppe bis 2011 verboten, obwohl sie ihren Gewaltverzicht erklärte.
Im Lichte der neuerlichen Verfolgungswelle in Ägypten könnte sich die Lage dramatisieren. So zitiert Ramsauer Experten für islamistische Bewegungen wie Omar Ashour nach den Festnahmen im Jahr 2013: „Das Problem allerdings ist, dass nun die gesamte Führungsmannschaft in Haft ist und keinen Kontakt mehr zur Bewegung selbst hat. Etabliert sich nun eine neue Spitze der Bewegung, die dazu bereit sein könnte, gewaltsamen Widerstand zu leisten, dann besteht natürlich die Gefahr, dass die Gruppe militant wird.“ Bereits in den 50er Jahren hatten sich militante Splittergruppen gebildet. Die Geschichte könnte sich wiederholen, warnt Ramsauer und verweist auf radikale Ableger der Muslimbruderschaft wie die Hamas oder jene Gruppe, die 1997 einen Anschlag auf Touristen im ägyptischen Ferienort Luxor verübte. Damals starben 62 Menschen.
„Niemand kann beitreten, ohne eingeladen zu werden“
Doch was genau sind eigentlich die Muslimbrüder? Wie agieren sie? Warum könnten sie gefährlich werden? Diese Fragen versucht die Autorin zu beantworten, indem sie einen ausführlichen Blick hinter die Kulissen der vorrangig als Glaubensgemeinschaft verstandenen Gruppe wirft. Ableger der Bruderschaft gibt es demnach in 79 Ländern, manche abhängiger, manche unabhängiger von Ägypten. „Die Bruderschaft ist keine Massenbewegung, der man sich einfach anschließen kann. Niemand kann beitreten, ohne eingeladen zu werden“, schreibt Ramsauer. Wer einmal Mitglied der Bruderschaft ist, müsse sein Leben der Gemeinschaft unterordnen. Weil die Gruppe in einzelne Zellen aufgeteilt ist, sei die totale Kontrolle jedes Mitglieds möglich. Etwa sechs bis acht Brüder bilden demnach eine Gemeinschaft namens usra, die sich wöchentlich trifft, betet und die politische Lage diskutiert. Der Leiter dieser usra informiert die höherrangigen Kader über das, was in seiner Gruppe geschieht. Neuzugänge müssen eine klar festgelegte Aufstiegshierarchie durchlaufen, bevor sie nach Jahren Mitglied werden können.
Regionale Gruppen wählen einen sogenannten Schura-Rat, dieser wiederum benennt ein Exekutivorgan, ein Polit-Büro und damit das eigentliche Machtzentrum. Es ist aufgebaut wie eine Regierung mit Fachministern, schreibt Ramsauer. Von dort aus werden Anweisungen in Pyramidenform nach unten weitergegeben, hierarchisch sortiert von Zelle zu Zelle: „SMS-Ketten orchestrieren die Bewegung binnen Minuten wie einen Vogelschwarm“, beschreibt die Autorin das. Doch wozu das Ganze? Um Macht zu übernehmen, sagen Aussteiger und Kritiker. Die Schaffung eines sozio-politischen Systems auf Basis islamischer Werte und das Ende des westlichen Einflusses waren die Ziele des Gründer Hassan al-Banna. Am Ende sollte ein islamischer Staat stehen. Das Netz der Brüder erstreckt sich über die arabische Welt bis nach Europa und in die USA. In der Bundesrepublik spielt offenbar die „Islamische Gemeinschaft Deutschland“ in München eine tragende Rolle für die Durchsetzung der Ziele der Bruderschaft. Die Gruppe beobachtet der Verfassungsschutz.
Moderat oder radikal?
Diesem Gruselszenario entgegen stehen zum einen Experten wie die Islamwissenschaftlerin Ivesa Lübben aus Marburg, die die Muslimbruderschaft als bürgerlich-konservative statt islamistisch-radikale Bewegung versteht. Auch Entwicklungen wie etwa in Marokko scheinen zu zeigen, dass die Bruderschaft durchaus demokratisch agieren kann und will. 2011 wurde dort Abdelilah Benkirane zum Premier gekürt. Er sagt: „Was uns vom Gedankengut der Muslimbruderschaft, aus der wir hervorgingen, heute unterscheidet, ist, dass wir kein Interesse daran haben, ins Privatleben der Menschen einzugreifen. Der Islam hat immer eine große Rolle im Leben der Marokkaner gespielt, aber das soll jeder halten, wie er will.“
Ein Urteil darüber, wie die Muslimbruderschaft nun zu sehen ist – als gefährliche oder moderate islamistische Kraft – will Ramsauer sich am Ende ihres Buches nicht erlauben. Mit den Worten „Das Netzwerk ist nicht zu verstehen“ endet ihr Werk. Hier wünscht sich der Leser trotz aller wertvoller Informationen in den vorangegangenen Kapiteln etwas mehr Einordnung von der Expertin. So tappt er weiterhin im Dunkeln – wenn auch erhellt durch Einblicke in das weltweite Agieren der Gruppe und ihre Ausprägung in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens. (pro)
Petra Ramsauer: „Muslimbrüder“, Molden Verlag, 208 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-85485-329-9
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