Die Elektrisierung der Massen



In öffentlichen Veranstaltungen erntet Margot Käßmann viel Beifall und auch ihre Autogramme sind begehrt. Beim bevorstehenden Kirchentag in Dresden ist sie mit acht Auftritten eine der "Hauptattraktionen". Der "Spiegel" hat in seiner aktuellen Ausgabe die Allgegenwärtigkeit der "Mut-Bürgerin" und deren Konsequenzen für die Politik hinterfragt.


Von PRO

Nachdem sie alkoholisiert einen Wagen gelenkt hatte und von der Polizei erwischt worden war, war die EKD-Ratsvorsitzende vor einem Jahr von ihrem Amt zurückgetreten. Trotzdem gehört sie seitdem zu den "erstaunlichsten Figuren des öffentlichen Lebens" in Deutschland – und sie gilt als moralische Autorität. Auch in der Diskussion um den Friedensprozess in Libyen, so "Spiegel"-Redakteur Ralf Neukirch, habe sie sich zu Wort gemeldet und ihre Meinung mehrfach revidiert.



"Eiapopeia-Prosa"



"Sie elektrisiert die Menschen, egal ob sie gerade für eine Flugverbotszone ist oder dagegen", verdeutlicht Neukirch. Ein Indiz dafür seien nicht nur ihre Fernsehauftritte, sondern auch die Tatsache, dass ihre Bücher fester Bestandteil der Bestsellerlisten sind. Einige davon gibt es mittlerweile auch als Hörbücher. Vor zwei Wochen hat Käßmann zudem ihre erste Talkshow moderiert. Bei einer "Spiegel"-Umfrage landete sie als moralische Instanz sogar vor dem Schriftsteller Günter Grass und dem Philosophen Jürgen Habermas.

Irritiert von den ganzen Vorwürfen zeigt sich Ralf Markmeier, der als Verlagsleiter von "adeo" eines der Bücher von Margot Käßmann verlegt: "Die Medien, die ihr das jetzt vorwerfen, machen es doch selbst und stellen die Anfragen. Wir hätten Frau Käßmann in jeder Talkshow unterbringen können, aber sie hat ihre Präsenz auf wenige Auftritte reduziert."



Mit ihren Büchern habe sie vor allem Erfolg in der Altersgruppe der Frauen zwischen 45 und 70, so der "Spiegel"-Autor. Diesen Frauen gebe sie das Gefühl, dass es nicht schlimm sei, wenn man Probleme mit sich und seinem Leben habe. Die Bücher zeigten, dass Fehlschläge normal seien und man nicht verzweifeln dürfe. Vor allem der offene Umgang mit ihrer Krebserkrankung und der gescheiterten Ehe mache sie glaubwürdig.



Der Literat Denis Scheck kritisiert dagegen Käßmanns "Eiapopeia-Prosa". Ihre Bücher, ergänzt Neukirch, erweckten den Eindruck einer "Art Dalai Lama auf Evangelisch". Die "wirkliche Käßmann" wirke dagegen "nüchtern und kühl", so der "Spiegel"-Redakteur. Mit ihrem Auftreten beeinflusse sie die Art, wie Politik in Deutschland wahrgenommen wird
.

Vereinfachende Ressentiments

In einem Interview mit dem Österreichischen Rundfunk (ORF) wurde sie als Person angekündigt, bei der sich "Mut als Leitmotiv durch ihr Leben zieht". Als sie in ihrer Neujahrspredigt 2010 verdeutlichte: "Nichts ist gut in Afghanistan", hagelte es nicht nur Kritik, sondern viele stilisierten sie auch zur "mutigen Bischöfin". "Sie ist für viele ein Vorbild, sie gilt als ehrlich und glaubwürdig. Was sie sagt, hat Gewicht. Sie ist die prominenteste Vertreterin der Evangelischen Kirche, auch ohne hervorgehobenes Amt", weiß Neukirch.


Ihre Sätze seien einprägsam und erreichten deswegen die Menschen. Käßmann  vermittele ein politisches Weltbild, dass auf der Zweiteilung zwischen Gut und Böse basiere. Doch auf viele politische Fragen gebe es keine solch einfachen Antworten. Und das kreidet Neukirch der ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden an: "Sie erhebt sich damit über die Politiker, die Kompromisse finden müssen und keine einfachen Antworten geben können. Sie nimmt für sich in Anspruch, mutig zu sein. Die Politiker erscheinen daneben kleinmütig." Sein Fazit lautet: "Der Rummel um ihre Person wird nicht nachlassen". Und Käßmann, so Neukirch, werde, obwohl sie sich gerade über den Rummel beklagt, dafür sorgen, dass er nicht aufhört.



Auch das kann Markmeier nicht verstehen: "Sie ist absolut uneitel und unaufgeregt. Dass Bücher auf Bestsellerlisten auftauchen, ist kein Indiz für einen geistigen Tiefflug." Käßmann liefere mit ihren Büchern keine einfachen Rezepte, sondern biete eine Orientierungshilfe: "Aber vielleicht ist das gerade die Aufgabe von Vordenkern durch Zuspitzung für Probleme zu sensibilisieren, die andere völlig aus dem Blick verloren haben", vermutet Markmeier. (pro)

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