Die diesjährige Wahl des Bundespräsidenten war von Pannen begleitet. Minutenlang warteten die 1.223 Mitglieder der Bundesversammlung (einer war krank) im Plenarsaal auf den eng angeordneten Stühlen auf die beiden obersten Vertreter des Staates. Bundestagspräsident Norbert Lammert fehlte. Er wartete vor den Türen des Reichstagsgebäudes auf das Staatsoberhaupt Horst Köhler, um das Ergebnis der geheimen Wahl bekanntzugeben.
Doch so geheim war die Wahl da schon nicht mehr. Zumindest das Ergebnis stand fest, bevor der Bundestagspräsident von seinem Recht Gebrauch machen konnte, es der Bundesversammlung zu verkünden. Unter großen Fragezeichen der übertragenden Fernsehjournalisten positionierte sich bereits nach dem 1. Wahlgang das Bläserquintett, die Saaldienerinnen verteilten schon mal die Blumensträuße fürs Gratulieren. Das alte Reglement des Bundestages, wie die Wahl des Staatsoberhauptes abzulaufen habe, es schmilzte im sommerlichen Berlin der „Medienrepublik“ dahin.
„Ich hätte mir das natürlich auch anders gewünscht“, sagte anschließend Norbert Lammert in der Bundesversammlung. Statt knisternde Spannung über der Frage, ob vielleicht weitere Wahlgänge vonnöten sein würden, um zwischen Gesine Schwan und Horst Köhler zu entscheiden, machte das konkrete Wahlergebnis – 613 Stimmen für Köhler – bereits die Runde.
Sieg vom „Bundes-Hotte“ war bereits getwittert
Und zwar nicht nur innerhalb des Plenarsaalgebäudes. Während die hohen Politiker und diverse Volksvertreter im Saal unruhig auf ihren Sitzen hin und her rutschten, übertrug das Fernsehen das Live-Bild eines wartenden Bundestagspräsidenten Lammert, der hoffend die Straße entlang sah. Das Handy in der Hand zeichnete er ein Bild, das geradezu typisch für die 60-jährige Bundesrepublik ist: lässig am Handy steht der zweithöchste Mann des Staates, von einer Fernsehkamera begleitet, vor „seinem“ Haus und wartet auf den höchsten Mann. Im Gegensatz zur alten Bonner Republik, die aus dem Zeitalter der alten Medien stammt, zählen im politischen Berlin Handy, E-Mail und Twitter.
Während der Bundestagspräsident einsam vor der Türe stand und auf die Straße blickte, wusste es die Welt des Internets schon längst: Köhler ist wiedergewählt. Der, dem per Grundgesetzt das Vorrecht zusteht, dem Volk und der Bundesversammlung das Ergebnis mitzuteilen, kam 10 Minuten zu spät. Für das Zeitalter des Internets ist das schon fast eine halbe Ewigkeit.
Zwei Bundestagsabgeordnete hatten das Ergebnis vorab über den Kurznachrichtendienst „Twitter“ im Internet verkündet. Um 14.15 verriet der SPD-Abgeordnete Ulrich Kelber per SMS der Welt: „Nachzählung bestätigt: 613 Stimmen. Köhler ist gewählt.“ Das ging offiziell in der Bundesversammlung allerdings erst eine Viertelstunde später an die Öffentlichkeit.
Auch die CDU-Abgeordnete Julia Klöckner twittert seit geraumer Zeit. Fans und Politikinteressierte können hautnah verfolgen, was ihre gewählte Vertreterin an Terminen so wahrnimmt und wie sie über bestimmte Themen denkt. So viel Politikernähe war nie. Um 12.17 Uhr twitterte sie, dass sie in die Zählkommission gewählt worden sei. Um 14.18 Uhr verkündet sie über Twitter, direkt von der Quelle: „Leute, ihr könnt in Ruhe Fußball gucken. Wahlgang hat geklappt.“ Das genaue Ergebnis verheimlicht sie, denn sie war sich ihrer Pflichten bewusst. Schon vorher schrieb sie ihren Twitter-Lesern: „Umschläge werden geöffnet. Melde mich mal ab wegen Auszählgeheimnis.“
Dennoch hat die verquere Bekanntgabe bei der Wahl des Bundespräsidenten zum 60. Geburtstag der Bundesrepublik Folgen. Von der „Twitter-Affäre“ schreibt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, kritisierte den Umstand, dass das Wahlergebnis lange vor der offiziellen Bekanntgabe durch die Blumen und die Blaskapelle offensichtlich wurde, als „protokollarischen GAU“.
Dass Abgeordnete auf dem Datenhighway schneller unterwegs sind als das Protokoll erlaubt, will die Union „nicht hinnehmen“. Und die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irmingard Schewe-Gerigk, soll für ein Verbot von Mobiltelefonen in Sitzungen von Zählkommissionen plädiert haben. Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Jörg van Essen, will im Ältestenrat darlegen, dass es allein dem Bundestagspräsidenten zustehe, Wahlergebnisse der Bundesversammlung öffentlich bekanntzugeben. Der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses, Sebastian Edathy, nannte den Ablauf der Wahl insgesamt „stil- und würdelos“.
Klöckner, die ihr vorschnelles Getwittere vom „Bundes-Hotte“ inzwischen bereut hat, lässt ihr Amt als Schriftführerin im Plenum des Deutschen Bundestags vorerst ruhen. Ulrich Kelber wehrte sich, er habe in Twitter nur das wiedergegeben, was in den Reihen der SPD-Fraktion zum fraglichen Zeitpunkt ohnehin schon herum erzählt worden sei. Gegenüber der „Tagesschau“ sagte er: „Der Bundestagspräsident hat sich selbst die Chance genommen. Über tausend Menschen kannten das Ergebnis schon. Es ist aus der Auszählung heraus gesimst worden.“
60 Jahre Grundgesetzt trifft auf Internet
Das Medium Twitter ist noch recht neu. Das Textverarbeitungsprogramm Word kennt es noch nicht und unterstreicht es rot. Und wie sich zeigt, muss der Umgang damit erst noch erlernt werden. Auch unter Politikern. Verspielte jüngere Abgeordnete, die sicherlich selbstverständlicher mit den neuen technischen Möglichkeiten umgehen als altehrwürdige Herren, twittern lustig aus ihrem Leben. So kam es, dass sie auch während der Wahl des Staatsoberhauptes nicht die Klappe (ihres Handys) halten konnten. Gregor Hackmack von „Abgeordnetenwatch.de“ mahnte in den „Tagesthemen“: „Abgeordnete unterschätzen das Medium Internet. Es ist was anderes, ob ich eine SMS an einen Bekannten schicke, die verbreitet sich nicht so schnell, wie das bei Twitter mittlerweile der Fall ist.“
Die Bundestagsverwaltung teilte mit, die Wahl sei stets im Rahmen der „parlamentarischen Freiheiten“ geblieben. Es gebe keine Sanktionsmöglichkeiten, denn die Zählkommission habe keine Geschäftsordnung. Hans Herbert von Arnim von der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer sagte in den „Tagesthemen“. „Hätte das ein Beamter gemacht, würde er disziplinarisch bestraft.“ Doch die Abgeordnete seien keine Beamten, da müsse dann die Öffentlichkeit die nötige Kontrolle ausüben.“ Vielleicht per Online-Befragung? (PRO)