Der Unerhörte

Markus Söder ist der zweite Protestant an der Spitze des Freistaates Bayern. Der CSU-Politiker gilt als machtbewusst, selbstdarstellerisch, provokant. Doch er hat auch eine andere Seite: Er predigt von der Liebe Jesu, besucht einen Gebetskreis und lauscht auf Autofahrten einer Hörbibel. Wie passt das zusammen?
Von Nicolai Franz
Söder im Gebetsraum des Heimatministeriums in Nürnberg

Treppe um Treppe geht es in den Keller, einem eilenden Markus Söder hinterher, bis der sein Ziel erreicht hat. Eine dicke Stahltür, weit offen, hinter ihr ein leuchtendes Kreuz. Im Gebäude des bayerischen Finanz- und Heimatminis­teriums in Nürnberg, wo pro Söder kurz vor dessen Ernennung als Ministerpräsident trifft, war einst eine Bank zuhause. Früher schützte der Tresor noch die irdischen Schätze vor Langfingern, an diesem Tag betet dort der Ministeriumschef. Hier findet er Stille im eng getakteten Arbeitstag.

Doch halt – Markus Söder, ein nachdenklicher, besinnlicher Typ? Das Urteil vieler Medien könnte dem kaum stärker widersprechen: Skrupellos, schamlos, rücksichtslos sei er, das ganze Leben sei für ihn ein Wettbewerb. Da passt es nicht ins Bild, wie der Protestant von seinem Glauben spricht. Die Süddeutsche Zeitung etwa spottete, dass sich zwischen dem „Heiligen Markus“ und seinem Image eine Kluft auftue „wie zwischen Bambi und Godzilla“. Doch stimmt das auch?

In der Tat: In Sachen Machtbewusstsein und Zielstrebigkeit macht Söder so schnell niemand etwas vor. Sein weitverzweigtes Netzwerk quer durch den Freistaat hat er sich durch jahrelange Kleinarbeit aufgebaut. In Nürnberg erzählt man sich die Geschichte, Söder habe als Jungpolitiker einmal bei einem Kleingärtnerverein angerufen. Er habe von einem Grillfest gehört, ob er denn zum Fassanstich kommen solle. Die Kleingärtner zeigten sich offen, nur leider habe man kein Fass. Söder brachte kurzerhand selbst eins mit.

Der gelernte Jurist und Fernsehredakteur weiß, wie man Schlagzeilen macht, wie Bilder wirken – und macht sich das zunutze wie kein Zweiter. Legendär sind Söders Faschings-Auftritte in Veitshöchheim, Live-Sendungen mit Millionen von Zuschauern. Er mimte schon Homer Simpson, einen Punk, Marilyn Monroe, die Zeichentrickfigur Shrek, Mahatma Gandhi und sogar Edmund Stoiber, der über Söder sagt, er sei sein „politischer Ziehsohn“. 2018, als schon klar war, dass Söder Horst Seehofer nach jahrelangen Machtkämpfen als Ministerpräsident beerben würde, kam er als Prinzregent Luitpold von Bayern, natürlich mit vorbereitetem Statement für die Kameras. Der Prinzregent gefalle ihm, sagt er durch den angeklebten Rauschebart. Nach ihm sei die Prinzregententorte benannt. Es sei doch schön, so in Erinnerung zu bleiben. „Das ist jedenfalls besser als ein Denkmal, auf dem nur die Tauben sitzen.“

Foto: privat/Bistum Regensburg

Markus Söder will den Freistaat höchstens zehn Jahre lang leiten – im Gegensatz zu Prinzregent Luitpold (Söder beim Fasching 2018, links): Der regierte bis zu seinem Tod mit 91. Über Homer Simpson (Söder 2017 mit seiner Frau Karin Baumüller-Söder, Mitte) sind derartige Avancen nicht bekannt. Auf Kanzeln spricht der Protestant ungeschminkt, aber mit Humor (rechts, 2017 in St. Emmeram).

Als Finanzminister überreichte er die Förderbescheide zum Breitbandausbau höchstpersönlich an die Bürgermeister, natürlich mit pressewirksamem Foto für die Regionalzeitung. Die Internetseite des Ministeriums listet mehr als dreihundert Bilder davon, wie er die Bescheide übergibt: Söder mit dem Bürgermeister von Bad Kohlgrub, Söder mit dem Bürgermeister von Zachenberg, mit dem von Stephansposching, Niederviehbach, Rotthalmünster. Die frohe Kunde des schnellen Internets, ermöglicht durch den künftigen Landesvater, sie erreicht so auch die letzten Winkel des Freistaats.

Kritiker legen ihm solche wenig subtilen Werbeauftritte als Ausdruck eines negativen Charakters aus, finden ihn unerhört. Einen Ehrgeizling wie Söder muss es kränken, dass seine Selbstvermarktung in seriösen Medien oft unerhört bleibt.Dabei würden solche Imagemaßnahmen im hochprofessionalisierten Politikbetrieb der USA wohl weniger auffallen als im bisweilen hemdsärmeligen Alltag der Bundesrepublik, in der, sagen wir, Authentizität oft mehr zählt als durchgeplante Politikunterhaltung.

Der letzte, der hierzulande mit einem vergleichbaren Drang und Fähigkeit zur Selbstinszenierung auffiel, von dem spricht heute fast niemand mehr. Karl-Theodor zu Guttenberg erlebte nach seinem beispiellosen Aufstieg einen ebenso jähen Absturz, als bekannt wurde, dass er bei seiner Doktorarbeit geschummelt hatte. Das hat Söder nicht, er trägt seinen Titel noch. Und natürlich haben die Plagiatsjäger des „Vroniplag“ seine Dissertation über die wenig Nervenkitzel versprechende „Entwicklung der Kommunalgesetzgebung im rechtsrheinischen Bayern zwischen 1802 und 1818“ genauestens geprüft. Da kann sich Söder manchen Hinweis auf seinen einstigen Rivalen nicht verkneifen, auch nicht in der Kirche. „Man muss nicht promoviert haben, um zu glauben. Ich habe zum Beispiel promoviert und bin froh, das bis heute behalten zu haben“, sagte Söder in einer seiner Predigten.

Zu den Predigten, Söder spricht lieber von „Bekenntnisreden“, ist er nach seiner Berufung in die bayerische Landessynode gekommen, in der er bis Anfang 2018 mitarbeitete. Eine Kirche ist natürlich kein Bierzelt, das Söder mit seinem Witz und manch deftiger Breitseite sofort im Griff hat. Und doch wirkt es so, als habe er nie etwas anderes gemacht, wenn Söder über die Liebe Jesu, die Einzigartigkeit des Christentums und die zentrale Botschaft predigt: Jeder Mensch ist angenommen und wertvoll. Es zählt nicht die Leistung, sondern allein der Mensch.

Zur frohen Botschaft gehört Humor

Möglich, dass Söder auch solche Worte nach ihrem Effekt abwägt. Doch man muss schon boshaft sein, um anzunehmen, sie kämen nicht auch aus seinem Herzen. Wenn manche anderen Politiker jeglicher Couleur predigen, verlieren sie sich oft in Allerwelts-Phrasen wie der bahnbrechenden Erkenntnis, dass wir in einem christlich-jüdisch geprägten Land leben und dass christliche Werte wie Nächstenliebe wichtig seien, wohl auch um wenig Angriffsfläche zu bieten. Söder hingegen stellt sich vor die erlauchte intellektuelle Prominenz der Evangelischen Akademie Tutzing und spricht über sein Gebetsleben. Dass er sich früher nicht traute, Gott mit seinen Alltagssorgen zu belästigen, nun aber das vertrauensvolle Zwiegespräch mit Jesus sucht. Wer öfter auf solchen Veranstaltungen ist, weiß, wie selten wirklich persönliche Glaubenszeugnisse im amtskirchlichen Bereich sind.

Wie seine Bierzeltreden sind auch Söders Predigten mit dem ihm typischen Humor gewürzt, ob bei Veranstaltungen der Christlichen Polizeivereinigung in der Freien evangelischen Gemeinde Nürnberg, auf dem Kongress christlicher Führungskräfte, in der Münchner Erlöserkirche oder in der katholischen Basilika St. Emmeram in Regensburg. „Manche Prediger tragen die frohe Botschaft mit einer Gesichtsmiene vor, dass man nur von einer Text-Bild-Schere sprechen kann.“ Ein typischer Söder.

Es ist Ende Februar, Söders damalige Arbeitsstätte, das Finanz- und Heimatministerium, liegt im Herzen der Nürnberger Altstadt. Groß gewachsen ist er, ähnlich wie sein Dauerkonkurrent Horst Seehofer. Söder hat mehr Lach- als Sorgenfalten im Gesicht. Im Gespräch wirkt er entspannt, auch wenn er sofort zur Sache kommen will. In freien Sekunden kontrolliert er sein Smartphone. Rechts neben seinem Schreibtisch steht ein bunt verziertes Holzkreuz. Wenn es nach Söder gehe, hängt bald in allen öffentlichen Gebäuden Bayerns ein solches, sagt er, ein Vorhaben, das er Ende April in die Tat umsetzte. „Ich fühle mich wohler, wenn ein Kreuz in der Nähe ist“, sagt er. Ein Symbol der Menschenwürde sei das, es zeige, dass der Mensch einen Wert habe, egal, ob er groß, schön, stark oder schwach ist. Immerhin verlange Söder ja nicht, dass wie in anderen Ländern das Porträt des Präsidenten an die Wand gehöre. „Ein Kreuz jedoch würde mir gefallen.“ Auf seinem Münchener Schreibtisch liegt eine Luther­bibel in der Übersetzung von 2017, in die er immer mal wieder schaut. Am liebsten lauscht er aber einer Hörbibel, wenn er auf langen Autofahrten unterwegs ist. Sein Lieblings­evangelium ist das von Matthäus, sagt er, weil die Geschichten von Jesus dort besonders schön erzählt werden. „Wer mehr Drama und Science-Fiction will, kann sich auf einer langen Fahrt auch die Offenbarung des Johannes gönnen. Die Bibel ist spannender, als man denkt.“ Söders Mitarbeiter hören dann natürlich zwangsläufig mit, wenn aus den Lautsprechern der Dienstlimousine die Siegel- und Posaunengerichte ertönen. „Hat aber bisher noch keinen gestört.“

Ob er auch mal als Jesus zum Fasching nach Veitshöchheim gehen würde? Schlagzeilen wären ihm sicher. „Das wäre absurd und anmaßend“, eine Frage des Respekts. Sein eigener Glaube basiere sehr stark auf der Person Jesu Christi. „Manch einer sagt, Monotheisten seien alle gleich – das stimmt aber nicht. Jesus macht den Unterschied.“ Von Söders Schreibtisch aus blickt man gegenüber auf einen großen Bildschirm. Geht man nach dem gängigen Medienbild über Söder, müsste hier ein Actionfilm laufen, „Stirb langsam“ vielleicht, mindestens aber der Newsticker eines Nachrichtensenders. Stattdessen plantschen Pinguine im Wasser, das Hauptmenü der Natur-Doku „Planet Erde“. Mag sein, dass selbst die Auswahl der DVD eine imagebildende Maßnahme ist. Mag aber auch sein, dass manche Journalisten vor lauter Misstrauen auch da Inszenierung sehen, wo keine ist.

An der Kirche stört ihn, wenn sie bestimmte politische Positionen als die einzigen wahrhaft christlichen darstelle, etwa in der Flüchtlingsfrage. „Wir sind nicht bei ‚Deutschland sucht den Superchristen‘, wo eine Jury festlegt, ob man auch richtig glaubt.“ Söder sitzt an seinem gläsernen Besprechungstisch, ein Bein über das andere geschlagen, mit einer Hand gestikulierend. In Deutschland gelte das humanste Flüchtlingsrecht der Welt. Nicht die Grenzöffnung 2015 sei der Fehler gewesen, sondern die Grenze nachher nicht mehr zu schließen. Wenn jemand nicht rechtmäßig hier sei oder gar seine Identität fälsche, könne das nicht akzeptiert werden. Söder findet, die Kirche solle „mehr missionieren als politisieren“.

Franz-Josef Strauß über dem Teenie-Bett

Sein katholischer Vater stand dem Glauben eher fern, im Gegensatz zu seiner Mutter, einer gläubigen Protestantin. Jeden Abend betete sie mit dem kleinen Markus: „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm.“ Doch nach der Konfirmation geriet sein Kinder- und Jugendglaube mehr und mehr ins Abseits. An die erste Stelle trat das politische Interesse. Über dem Bett an der Dachschräge seines Kinderzimmers begrüßte den Teenager jeden Morgen ein riesiges Porträt des CSU-Übervaters Franz-Josef Strauß. Schon 1994 stand Söder kurz vor seiner ersten Landtagswahl. Die Türen schienen ihm offen zu stehen, seine Zukunft voller Möglichkeiten. Bis seine Mutter drei Wochen vor seinem großen Tag plötzlich verstarb. Neben ihrem Krankenbett hing ein Wahlplakat ihres erst 27-jährigen Sohnes. Am Morgen ihres Todes hatte man aufgeräumt, Söder fand das Plakat eingerollt und in einer Tasche verpackt. Der Tod der Mutter traf ihn mit voller Wucht, sein Leben geriet ins Wanken. „In dieser Zeit ist mein Glaube wieder geweckt worden“, sagt Söder.

Foto: pro/Nicolai Franz

Vor dem Andachtsraum im Nürnberger Heimatministerium erinnert eine dicke Stahltür an den ehemaligen Tresor

Heute besucht er regelmäßig einen Gebetskreis, in dem er der einzige Politiker ist. Durch ihn hat Söder mehr Mut zum Bekenntnis und zum Gebet gefunden. Sie treffen sich zu viert, starten mit einem Frühstück, sprechen über den Glauben und Alltagsanliegen, sie beten füreinander. Wie in einem Hauskreis. „Eine seelische Vitaminspritze in den Tag“, nennt Söder das.

16. März, München, Bayerischer Landtag. Söder beißt sich auf die Lippen, den Blick nach unten aufs Pult gerichtet, als Landtagspräsidentin Barbara Stamm anhebt: „Auf Herrn Dr. Markus Söder entfielen … 99 Stimmen.“ Applaus brandet auf, Söder lehnt sich langsam zurück, noch angespannt, und verpasst dem Landtagstisch mit der flachen Rechten eine saftige Watschn. Geschafft. Ministerpräsident. Die Anspannung weicht einem Lächeln. Es wäre untertrieben zu sagen, dass Söder auf diesen Moment gewartet hat. Nun ist er der zweite Franke und Protestant nach Günther Beckstein als Chef des Freistaats. Dazu gehört der unbedingte Wille zur Macht, den Söder zweifellos hat. Dazu gehören harte Entscheidungen, zwischenmenschliche Enttäuschungen. Kommt man, zumal als Christ, nicht manchmal ins Zweifeln, bei diesem Spiel mitzumachen? Oder, noch krasser, als derjenige bekannt zu sein, der das Handwerk mit am besten beherrscht? Söder sieht das eher entspannt. „Als Jesus die Händlertische im Tempel umgeworfen hat, glich das auch einem Haifischbecken.“ Die meisten Politiker seien aber grundanständige Leute.

Im „Tresor des Lichtes“ im Finanzministerium weiß sich Söder für das Foto sofort zu positionieren. Er nimmt auf der Bank im Innern des Holzkreuzes Platz. Er schaut gelassen in die Kamera. Dann stellt er sich zwischen Madonna und Lichtkreuz. Das Foto ist im Kasten, da bemerkt er, wenn er schon mal hier sei, werde er auch gleich beten. Söder dreht sich um, schließt die Augen und neigt sich.

Der Beitrag ist in der aktuellen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins pro erschienen. Dies können Sie kostenlos und unverbindlich unter der Telefonnummer 06441/915151, via E-Mail an info@pro-medienmagazin.de oder online bestellen.

Von: Nicolai Franz

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