Der Traum von der Abtreibung – zerplatzt

Die Verwirklichung vom "Traum vom gesunden Kind" ist nicht allen Eltern gewährt. Ein behindertes Kind zur Welt zu bringen, ist nicht leicht. Das Magazin "Der Spiegel" porträtiert ein Ehepaar, das schlichtweg völlig überfordert war, sein Kind töten wollte und auch heute noch beim Anblick des jetzt zweijährigen Sohnes lieber den Tod wählen würde. Über einen "Spiegel"-Artikel, der ein Plädoyer für das Recht auf Spätabtreibung ist.
Von PRO

Das Ehepaar Senges wohnt in München. Reinhard Senge, 38, leitet einen Betrieb für Polster und Vorhänge. Seine Frau Claudia wurde vor zwei Jahren schwanger, doch erfuhr sie in der 34. Schwangerschaftswoche, dass im Gehirn des Kindes das Corpus Callosum fehlte, also die Verbindung zwischen beiden Gehirnhälften. „Manche der betroffenen Kinder können kaum kontrollierte Bewegungen machen, leiden unter Krampfanfällen, andere sind blind, geistig behindert sowieso“, schreibt „Spiegel“-Autorin Beate Lakotta.

Franz Kaiser, Leiter der Geburtshilfeabteilung an der Universitäts-Frauenklinik in München, der seit 25 Jahren Diagnosen für Ungeborene stellt und Babys auf die Welt holt, gibt seine Einschätzung. „Theoretisch könne sich das Kind fast normal entwickeln. Wahrscheinlich sei jedoch eine schwere Behinderung, körperlich und geistig, einhergehend mit Krampfanfällen oder Verhaltensstörungen, im schlimmsten Fall müsse es künstlich beatmet oder ernährt werden“, schreibt „der Spiegel“.

Die Eltern sind mit der Prognose für ein behindertes Kind völlig überfordert. Sie wollen das Kind nicht. „Claudia Senge will das Kind keinen Tag länger in sich tragen. Die Ärzte sollen eine Abtreibung vornehmen, so, wie es nach dem Gesetz möglich ist.“ Laut Paragraph 218 wird ein Schwangerschaftsabbruch zwar mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet, doch es gibt Ausnahmen. Abtreibung ist dann möglich, wenn die Mutter durch die Geburt eine „schwerwiegende Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes“ erleiden würde „und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann“. Das Gesetz sagt aber auch: Das Ungeborene hat ein eigenes Recht auf Leben, und ein Schwangerschaftsabbruch könne „nur in Ausnahmesituationen“ in Betracht kommen, „wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt“.

Abtreibung: Wunsch der Eltern, „kleine Katastrophe“ für den Arzt

Mediziner Franz Kainer gibt den Eltern zu bedenken, dass das Kind schon 35 Wochen alt und voll entwickelt sei. Schon ab der 22. Woche können Föten außerhalb des Mutterleibs überleben. Bei einer Abtreibung würde dem Kind eine Kanüle ins Herz gestochen, und darüber Kaliumchlorid hineingespritzt, um es zu töten. Danach würde der Arzt die Geburt einleiten, und die Mutter würde das tote Kind gebären. „Spiegel“: „Für ihn, Kainer, ist jeder Fetozid eine kleine Katastrophe, er will das nicht tun.“

„Wir wollten uns von unserem Kind trennen, durften aber nicht“, empört sich Reinhard Senge. Für ihn und seine Frau brach „das ganze Leben wie ein Kartenhaus zusammen“. „Sollen sie dem Kind das antun? Wird die Ehe das aushalten?“, waren Fragen, die sie sich stellten. Kommt ihr anderer Sohn nicht zu kurz? Reinhard Senge: „Das Kind ist eine Zeitbombe. Kein Mensch kann uns sagen, wie wir damit leben sollen.“ Einmal denkt Senge sogar daran, das Kind zwar zur Welt kommen zu lassen, es dann aber irgendwann zu töten. Vielleicht könnte das Kind ja „mal vom Tisch fallen“. Er fügt hinzu: „Nicht, dass ich’s gemacht hätte. Es waren Gedanken aus der Hilflosigkeit.“

Auch anderswo lehnten Ärzte „immer öfter“ späte Abteibungen ab. Immerhin stritten Politiker aller Parteien öffentlich darüber, „was zu tun sei, um möglichst viele dieser Eingriffe zu verhindern.“ Weiter heißt es im „Spiegel“, „nach einem ungeschriebenen Gesetz“ würde in Bayern kein Arzt nach der 22. Schwangerschaftswoche eine Abtreibung durchführen, wenn die Behinderung des Kindes mit dem Leben vereinbar sei. Die Senges versuchen es trotzdem noch in einer anderen Klinik. Doch auch dort lehnte der Arzt eine Abtreibung bei dieser Krankheitswahrscheinlichkeit und dem Alter des Kindes ab. Eine Rechtsanwältin bestätigt ihr: Es gibt kein einklagbares Recht auf eine Abtreibung.

Schämen für ein behindertes Kind

Das Kind wird geboren, und Senges nennen es Ludwig. Doch Frau Senge will es nicht sehen. Dabei sieht es genauso aus wie andere Kinder. Erst nach zehn Tagen geht die Mutter das erste Mal zu ihrem Kind. „Es ist kein glücklicher Moment“, schreibt der „Spiegel“. Dennoch nehmen sie das Kind mit nach Hause. Die Eltern schämen sich für das behinderte Kind, schreiben zunächst keine Geburtskarten. Ein halbes Jahr warten sie, „bis sie sicher sind, dass sie den Ludwig behalten“. Der „Spiegel“: „Sie verschicken nicht viele Anzeigen.“

Ludwig ist äußerlich gesehen gesund, lacht viel. Doch Senges haben nicht einmal ein Kinderzimmer hergerichtet. Wenn die Mutter gleichaltrige gesunde Kinder sieht, „erträgt sie den Anblick nicht“. „An dieses Kind, empfindet sie, wird sie gekettet sein bis an ihr Lebensende.“ Außerdem fürchtet sie sich vor den mitleidigen Blicken. „Und auch (dem anderen Sohn, d. A.) Felix wird dann vielleicht sein Bruder peinlich sein: ‚Man schämt sich ja, auch wenn keiner was dafür kann.“ Glotzende Leute sind nichts Feines. „Vielleicht wird sogar mal einer sagen: So ein Kind, das muss doch heute nicht sein.“ Mutter Senge sagt: „Die Leute sind eben auch unserer Meinung. Man hätte das verhindern können.“

Der Bezirk Oberbayern lehnte Unterstützung für den Aufenthalt in einer integrativen Kinderkrippe ab. Obwohl Ärzte Gutachten schrieben: Ludwig kann mit zwei Jahren noch nicht frei sitzen, auch zeige er keine Ansätze zum Sprechen. Frau Senge ist wütend: „Erst hat uns der Staat gezwungen, ihn auf die Welt zu bringen, aber wenn es um seine Förderung geht, ist keiner mehr zuständig.“ Wenig später kommt auch von der Krankenkasse eine Hiobsbotschaft: Sie zahlt die 1.500 Euro Kosten für Ergo- und Physiotherapie nicht mehr weiter. Senges sollen zum Sozialamt gehen.

Der „Spiegel“ versucht, die Umstände darzustellen: „Irgendwann sind die Kinder auch nicht mehr süß. Manche verhalten sich extrem aggressiv oder setzen sich in der Pubertät im Bus Wildfremden zum Schmusen auf den Schoß.“ Und wenn der Vater seinem kleinen Ludwig die Hand hinhält zur Begrüßung, dann streckt Ludwig seine Hand nicht aus.

Beim Anblick seines zweijährigen behinderten Sohnes, der in einer Zeitung blättert, zieht Herr Senge das Fazit: „Wenn er später mal net drei und drei z’samm’zähl’n kann, wird die Welt net untergehn deshalb. Jetzt blättert er jede Seit’n mit Feing’fühl um – dafür, dass er die Fehlbildung hat, is‘ des net schlecht.“

Und ein besonderes Phänomen entdecken sie: Felix, ihr anderer Sohn, hat eine besondere Strategie, was seinen behinderten Bruder angeht. Frau Senge: „Der nimmt den Ludwig, wie er ist.“ Doch während sie selbst mir ihrem behinderten Sohn herumtollt, sein Lachen hört und ihm Milchschaum aus dem Kaffeeglas gibt, sagt sie: „Trotzdem würden wir uns immer wieder gegen das Kind entscheiden, wenn wir könnten.“ (PRO)

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