Der Kirchenhistoriker Christoph Picker hat davor gewarnt, zwischen einer Gesinnungs- und einer Verantwortungsethik zu unterscheiden: „Das hilft nicht weiter. Wer Politik macht, will normalerweise gestalten und die Welt besser machen“, sagte er in der Online-Diskussion „Aus den Augen, aus dem Sinn – Ethik und Moral versus Realpolitik in der Flüchtlingsfrage“ des Verein „Junges Europa“. Eine Moral und eine Ethik, die sich nicht mit den Gegebenheiten auseinandersetzten, seien schlecht.
Picker hatte kürzlich ein Buch zur Flüchtlingsethik vorgelegt. Er beobachte, dass die Flüchtlingspolitik aus dem Lot gerate: „Wir müssen mehr tun: mehr Flüchtlinge aufnehmen sowie sichere Zugangswege und Voraussetzungen in der Integrationspolitik schaffen.“ In der öffentlichen Debatte gelte es, sensibel zu argumentieren und keine Vorurteile zu verstärken. Dabei habe Kommunalpolitik eine große Bedeutung, weil sie in unmittelbarem Kontakt zur Zivilgesellschaft stehe.
„Erst die Fakten, dann die Moral“
Die Bochumer Humangenetikerin Sigrid Graumann bezeichnete die aktuelle Flüchtlingspolitik als „völlig inakzeptabel“. Das Recht auf Zugehörigkeit und die Möglichkeit der Zuflucht seien nicht gegeben. Sie wehrte sich auch dagegen, einen Gegensatz von Moral und Realpolitik aufzubauen. Die Länder müssten auf die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung achten. Problematisch sei das nationale Recht, jemanden abzuweisen. Graumann wünsche sich eine Verpflichtung zur Nothilfe. Im zweiten Schritt könne man politisch über das Recht auf Zugehörigkeit diskutieren: „Die Menschen fliehen nicht willkürlich, obwohl sie wissen, dass sie ertrinken können.“ Graumann lehnte es ab, die Flüchtlingspolitik auf geschlossene oder offene Grenzen zu reduzieren: „Der Schutz der Menschenrechte wird immer mehr ausgehöhlt. Wir stehen vor einem Bankrott der europäischen Flüchtlingspolitik.“
Anders sah das der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. Er benannte deutlich die Grenzen der Flüchtlingspolitik. Das moralische Dilemma, nicht allen helfen zu können, sei nicht auflösbar. Eine ethisch saubere Flüchtlingspolitik werde es nicht geben. In seinem neuen Buch spricht der Grünen-Politiker sich dafür aus, „erst die Fakten, dann die Moral“ zu beurteilen. Dies führe dazu, nicht die eigenen Vorstellungen der Welt zum Maßstab zu machen, sondern erst die Wirklichkeit zu betrachten.
Wer politisch moralisiere, stelle sich selbst auf eine höhere Stufe. Wenn Armut das Kriterium sein sollte, um Flüchtlinge aufzunehmen, könnten das die Staaten nicht mehr leisten. Einzelne Flüchtlinge auszuwählen, führe zu Ungerechtigkeiten: „Man wird immer schuldig, wenn man nicht allen hilft.“ Wer mehr Flüchtlinge aufnehme, handle auch nicht zwangsläufig moralischer. Palmer verwies auf effektivere Methoden, „als die Menschen zu uns zu holen“. Die Stadt Tübingen sei eine Städtepartnerschaft eingegangen und unterstütze die Partnerstadt auf wirtschaftlicher Ebene.
„Flüchtlingspolitik muss den Werten der Humanität entsprechen“
Er wolle mit seinen Thesen keine Ängste schüren, aber den Menschen auch „reinen Wein zur Sicherheitslage“ einschenken: „Während 95 Prozent der Flüchtlinge in der Kriminalstatistik nich auffallen, sind die übrigen fünf Prozent Mehrfach-Straftäter und Kristallisationspunkte für Ängste und Abwehr“, berichtete Palmer. In Tübingen habe diese Gruppe bereits den Drogenhandel der Stadt massiv beeinflusst.
Die CSU-Politikerin Astrid Freudenstein betonte, dass der Staat während der Flüchtlingskrise gezeigt habe, dass er funktioniere. Die zweite Bürgermeisterin der Stadt Regensburg verteidigte auch Innenminister Horst Seehofer. Dieser habe immer betont, dass die Flüchtlingspolitik den Werten der Humanität entsprechen müsse. Deutschland habe sich etwa als einziges Land bereiterklärt, Flüchtlinge von griechischen Inseln aufzunehmen.
Die Diskussionsrunde hatte der Verein „Junges Europa e.V.“ angeboten. Die Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, „den in Deutschland geführten Europa-Diskurs zu verbessern und Europa fassbarer machen“.
Von: Johannes Blöcher-Weil