Der nette Vampir von nebenan

"Twilight" in Kinocharts und Bestsellerlisten, Blutsauger-Serien im Fernsehen und neue Sachbücher: Vampire sind so untot wie lange nicht. Auch viele Christen lesen die "Bücher mit Biss", und interpretieren Parallelen zur biblischen Ethik. Meist zu unrecht, meint die Theologin Beth Felker Jones in einer Analyse.
Von PRO

Wer dieser Tage in eine Buchhandlung geht, wird sehr wahrscheinlich auf das Thema Vampire stoßen. Viele Geschäfte widmen den unsterblichen Fabelwesen, die sich von Blut ernähren, Sonderflächen, auf denen Romane, Sachbücher und DVDs angeboten werden. Auslöser des Booms ist vor allem die vierbändige Romanserie "Twilight" (in Deutschland bekannt als "Bis(s)…"-Reihe) der amerikanischen Autorin Stephenie Meyer. Seit 2006 die erste Übersetzung erschien, wurden zehn Millionen Bücher der Serie im deutschsprachigen Raum verkauft, weltweit sind es über 100 Millionen. Klar, dass dieser Erfolg auch auf die Leinwand kam: Die ersten drei "Twilight"-Filme wurden zu weltweiten Kassenschlagern. Die Hauptdarsteller Kristen Stewart und Robert Pattinson wurden über Nacht zu Teenie-Idolen, blicken bleich von Postern in Kinderzimmer.

"Twilight" erzählt die Geschichte der 17-jährigen Bella, die mit ihrem Vater in der verregneten US-Kleinstadt Forks lebt und sich in den Vampir Edward Cullen verliebt. Edward und seine Familie sind "vegetarische Vampire", was bedeutet, dass sie sich aus Rücksicht auf die Menschen nur von Tierblut ernähren. Bella und Edward fühlen sich wie Magnete zueinander hingezogen und werden ein Paar. Die Beziehung ist von unerfülltem Verlangen und Selbstbeherrschung geprägt: Bella will Sex, Edward will erst Heiraten. Er hat sowieso ganz andere Probleme: Der Geruch von Bellas Blut bringt ihn fast um den Verstand, und es fällt ihm unendlich schwer, nicht über sie herzufallen. "Er schaut dich an, ich weiß nicht – als wärst du was zu essen", bemerkt sogar ein Schulfreund Bellas. Nach diversen Querelen und Abenteuern wird in Band Vier schließlich geheiratet, und Bella drängt Edward, endlich ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen: Er soll sie in einen Vampir verwandeln, damit sie unsterblich wird.

Stephenie Meyer variiert hier die für Vampirgeschichten so typische sexuelle Metaphorik. Der von Leidenschaft getriebene Blutsauger Edward fällt nicht über die schöne Jungfrau her, schlägt ihr nicht die Zähne in den Hals, was in Klassikern wie "Dracula" den Koitus symbolisiert. Stattdessen beobachtet er Bella beim Schlafen und besteht auf Enthaltsamkeit bis nach der Hochzeit.

"Schmusegrusel für Sittenwächter"

Nun ist es genau dieses moralische Benehmen der "Twilight"-Helden, das der deutschen Presse schwer im Magen liegt. Den zweiten Film der Reihe, "New Moon – Bis(s) zur Mittagsstunde", bezeichnete "Der Spiegel" als "Schmusegrusel für Sittenwächter", und spottete über Vampir Edward: "Kein Biss vor der Ehe, nicht mal Safer Saugen ist bei dem sittenstrengen ‚True Love Waits‘-Verfechter drin." "Die Welt" warnte, der Film führe "auf den unseligen Pfad der Enthaltsamkeit", denn es "siegt wieder die Vernunft über den Sex. Und das nervt." Die "tageszeitung" beschwert sich in einer Filmkritik über den "erzkonservativen Tugendterror" der Geschichte. Bei solchen Kritiken ist man geneigt, "Twilight" reflexartig zu mögen.

Dass es in "Twilight" an Sex mangelt, bedeutet aber keinesfalls, dass die Romane und Filme nicht jede Menge sexuellen Zündstoff bieten. Durch die freiwillige, aber qualvolle Enthaltsamkeit entsteht eine "erotische Dauerspannung", analysiert Vampirexperte Norbert Borrmann in seinem neuen Buch "Vampirismus – Der Biss zur Unsterblichkeit". Medien in Deutschland spekulieren, dass gerade amerikanische Jugendliche diese gesellschaftliche oder teils selbst auferlegte Bürde der Enthaltsamkeit nachvollziehen können und die "Twilight"-Welt deswegen so lieben. Dazu erklärt die Theologin Beth Felker Jones in ihrem Buch "Faszination mit Biss": "Für diejenigen, die in einem Umfeld aufgewachsen sind, in dem sexuelle Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe propagiert wird, hat diese Geschichte des Wartens trotz großer Spannung etwas Vertrautes und seltsam Zeitgemäßes".

Da die Vampire der Cullen-Familie ihre Triebe aus ethischen Gründen nicht ausleben, agieren sie in einem moralischen System, das der christlichen Ethik und Sexualmoral zu ähneln scheint. "Twilight"-Schöpferin Stephenie Meyer ist Mormonin und erklärte, dass sie aufgrund ihres Glaubens nicht über Sex außerhalb der Ehe schreiben will. Allerdings habe sie auch keine bewusst religiösen Elemente in ihre Bücher eingebracht, wolle nicht damit "missionieren".

Theologin: Keine christlichen Moralvorstellungen

Beth Felker Jones nimmt in ihrem Buch, das sich an jugendliche "Twilight"-Fans richtet, das Weltbild der Saga näher unter die Lupe. "Im Twilight-Universum kämpft das Gute gegen das Böse und die Charaktere darin kämpfen heldenhaft gegen ihre schlimmsten Begierden an", schreibt sie. "Meyer hat hier ganz zweifellos eine Welt mit moralischen Grundsätzen geschaffen, aber die Regeln dafür, was gut ist, unterscheiden sich grundlegend vom christlichen Verständnis von Gutsein und Moral." So werde beispielsweise die Liebe in "Twilight" als etwas "schicksalhaftes" dargestellt, sie ist "verzehrend" und dränge alles andere in den Hintergrund. Edward und Bella sind wie "Drogen" füreinander: "Jeder der beiden ist der Grund für die Existenz des anderen", nichts anderes zählt mehr. Felker Jones nennt diese obsessive Form der Liebe "Götzendienst". Die Beziehung von Edward und Bella sei darüber hinaus von Verhaltensweisen gekennzeichnet, die im richtigen Leben an Missbrauch grenzten: Edwards starke Eifersucht und Neigung zur Gewalt, Bellas Isolation von Freunden und Familie, Kontrolle, emotionale Erpressung. Die kritische Autorin will besonders junge Frauen warnen: "Wenn wir Bellas und Edwards Liebe idealisieren, besteht die Gefahr, dass wir kontrollierendes und besitzergreifendes Verhalten als ‚Liebe‘ missverstehen". Bella gebe ihr ganzes Leben für Edward auf, sei eine "Sklavin" ihrer Liebe.

Geschichte des Vampirs als literarische Figur

Dieser Charakterisierung widerspricht Norbert Borrmann in seinem Sachbuch. Bella sei sehr selbstbewusst und der dominierende Part in ihrer Beziehung: "Jedesmal setzt sie sich gegenüber Edward durch". Stephenie Meyer habe nicht nur durch diese Rollenverteilung "die Vampirwelt radikal modernisiert": "Der Vampir hört auf, Monster zu sein. Er wird Identifikationsobjekt." Diesen Schritt sei erstmals Anne Rice mit ihrer "Chronik der Vampire", insbesondere ihrem Werk "Interview mit einem Vampir", gegangen. Borrmann befasst sich in seiner durchaus spannenden Abhandlung mit der Entwicklung des Vampirs in Literatur und Film. Die in modernen Erzählungen so beliebten Protagonisten bezeichnet er als "Highschool-Vampire", die nicht mehr mit Fledermäusen und Modergeruch, sondern mit Designerklamotten und schnellen Autos aufträten. Damit würden sie für die zumeist weiblichen Leser zur "Idealgestalt" und somit zum ersehnten "Traummann". Religiöse Gefühle würden durch die Vampire in "Twilight" zwar nicht ausgelöst, sie seien aber stark, reich und schön – somit "eignen sie sich bestens als Wunschprojektion einer diesseitig-hedonistischen Gesellschaft". Borrmann berichtet, dass nicht wenige Teenager deswegen davon träumen, selbst zum Vampir zu werden.

Auch TV-Sender lassen Vampire los

Sieben Jahre nach Ende der erfolgreichen Serie "Buffy", in der neben Vampir- auch Pubertätsprobleme angegangen werden, wollen auch heute mehrere Fernsehsender mit Vampirgeschichten punkten. An die inhaltliche Tiefe oder gar die moralischen Parabeln von "Twilight" kommen sie aber nicht heran. ProSieben zeigt momentan die zweite Staffel von "The Vampire Diaries" – Fans loben zwar, dass es hier nicht so züchtig zugeht wie bei Stephenie Meyer. Die Serie ist aber eher durchschnittliche Highschool-Herzschmerz-Kost und spricht wie "Twilight" ein junges Publikum an. Ganz anders "True Blood" von Drehbuchautor Alan Ball  ("American Beauty"): Die drastischen Sexszenen richten sich an ein hartgesottenes erwachsenes Publikum und sind nur deshalb möglich, weil die Serie in Amerika im Pay-TV gezeigt wird, wo der Jugendschutz nichts zu melden hat. RTL II brachte die erste Staffel am 16. März ins deutsche Free-TV – nach Einbruch der Dunkelheit, versteht sich.

Beth Felker Jones zeigt in ihrem Buch Verständnis für die Vampir-Faszination, mahnt aber zum kritischen Nachdenken über die Geschichten an. "Ich bin der Meinung, dass Christen auch in nichtchristlicher Literatur viele positive Anregungen finden können, aber was die Frage der Moral und des Guten in der ‚Twilight‘-Saga angeht, habe ich da so meine Zweifel", schreibt sie, und empfiehlt Gespräche über die schwierigen "Twilight"-Themen in Jugendgruppen. Vampir-Fans wird es somit nicht langweilig werden, bis im November Teil Eins des vierten "Bis(s)"-Bandes ins Kino kommt. Es darf also weiter geschmachtet, gegruselt und gebissen werden. (pro)

Lesen Sie diese und andere spannende Geschichten in Ausgabe 1/2011 des Christlichen Medienmagazins pro. Jetzt kostenlos bestellen: Tel. 06441 915 151, Fax 06441 915 157.

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