Der Münster-„Tatort“ und das Täuferreich des Jan van Leyden

Im aktuellen „Tatort“ untersuchen der Kommissar Frank Thiel und Gerichtsmediziner Karl-Friedrich Boerne in Münster den Mord an einem ehemaligen Schausteller und Burgbesitzer. Bei den Ermittlungen kommt immer wieder der Täuferkönig Jan van Leyden und dessen Herrschaft in der Stadt zur Sprache. Die Historikerin Astrid von Schlachta haben wir um Prüfung der historischen Angaben in dem Krimi gebeten.
Von Norbert Schäfer
Bei den „Tatort"-Ermittlungen hatten es der Pathologe Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers, links), seine Assistentin Silke Haller (Christine Urspruch) und Kommissar Frank Thiel (Axel Prahl) diesmal mit einer Leiche in Ritterrüstung zu tun

Im aktuellen Fall der ARD-Krimiserie „Tatort“ aus Münster mit dem Titel „Es lebe der König!“ untersuchen der Kommissar Frank Thiel (gespielt von Axel Prahl) und der Gerichtsmediziner Karl-Friedrich Boerne (gespielt von Jan Josef Liefers) den Mord an einem ehemaligen Schausteller und Besitzer einer mittelalterlichen Burganlage. Die sollte, so war der Plan des Ermordeten, in einen Freizeitpark umgestalten werden, in dessen Mittelpunkt die blutige Geschichte des Täuferkönigs Jan van Leyden stehen sollte. Im Zuge der Ermittlungen wetteifern der Kommissar und der Pathologe mit Wissen über das „Täuferreich von Münster“.

pro hat die Historikerin und Vorsitzende des Vereins „500 Jahre Täuferbewegung“, Astrid von Schlachta, gebeten, die historischen Angaben in dem Krimi zu prüfen.

pro: Frau von Schlachta, im Krimi umreißt Kommissar Thiel in knappen Worten das „Täuferreich von Münster“ als eine „radikal-protestantische Bewegung“ von Wiedertäufern. Zwei Zahlen stehen als Beginn im Raum: 1532 und 1533. Was ist richtig?

Astrid von Schlachta: Sie nennen Schlagworte, die zeigen, wie Sprache Bilder und Geschichtsbilder prägen kann. „Wiedertäufer“ – dies war der diffamierende Begriff der täuferischen Gegner. Heute hat sich in der Forschung der Begriff „Täufer“ durchgesetzt. Denn letztendlich waren die Täufer ja nur in der ersten Generation „Wieder“täufer.

„Täuferreich“ – dieser Begriff lässt im Kopf gleich Bilder entstehen von einem zeitlich und territorial ausgedehnten „Reich“. Besser ist es, von „Herrschaft“ zu sprechen. Diese dauerte knapp eineinhalb Jahre. Nach den Wahlen im Februar 1534 war der Rat der Stadt Münster rein täuferisch besetzt – dies bildete die Grundlage für die täuferische Politik, die aber natürlich eine Vorgeschichte hatte. Seit 1532 wurde in den Kirchen Münsters der reformatorische Glaube gepredigt und 1533 äußerte Bernhard Rothmann seine Kritik an der Kindertaufe – aus dem evangelischen Prediger Rothmann wurde der täuferische Prediger.

Bernhard Rothmann war Anhänger von Melchior Hoffman, der einen für die Täufer sehr apokalyptischen Glauben predigte. Hoffman ging davon aus, dass Jesus Christus Ostern 1534 in Münster wiederkommen würde. Dies lockte viele Endzeit-Gläubige in die Stadt und lenkte die täuferische Bewegung in Münster in eine ganz spezielle Richtung. Münster wurde zum „Himmlischen Jerusalem“, wie es in Offenbarung 21 beschrieben ist. In diese endzeitliche Stimmung fügt sich das Königtum Jan van Leydens ein.

Im Tatort wird van Leyden als „selbsternannter König“ bezeichnet. Ist das die richtige Bezeichnung?

Die Wiederkunft Ostern 1534 war ausgeblieben, aber die Naherwartung hielt an. Einigen Akteuren war in Visionen geoffenbart worden, Jan van Leyden zum König zu ernennen. So wurde er zum erwarteten zweiten König David und zum Zeichen, dass die Wiederkunft Jesu doch noch bevorstünde.

Und schlussendlich „radikal-protestantisch“. Den Begriff „radikal“ nimmt man gerne her, um Gruppen, die andere Vorstellungen von Gesellschaft und Leben haben und nicht zum „Mainstream“ gehören, zu diffamieren. Doch was als „radikal“ eingeschätzt wird, unterliegt dem Ermessen. War Luther nicht auch „radikal“, da er wesentliche Prämissen des christlich-politischen Lebens, wie es aus dem Mittelalter überliefert war, infrage stellte? Und Verfolgung und Reichsacht auf sich nahm?

Was in Münster passierte, war eine täuferische Reformation, die allerdings durch eine außergewöhnliche endzeitliche Stimmung sowie durch die Zwangslage, dass der Bischof die Stadt belagerte und sie zurückerobern wollte, überhaupt nicht in „normalen“ Bahnen ablaufen konnte.

Ich habe übrigens den „Tatort“ in meiner Lehrveranstaltung in Regensburg besprochen. Das Urteil der Studierenden war: eine Aufzählung von Fakten und Daten – so erzählt man Geschichte heute nicht mehr.

Was sollte man als Geschichtsinteressierter über das „Täuferreich von Münster“ wissen?

„Münster“ zeigt, was passiert, wenn das Bild einer Gruppe fast ausschließlich von „Anderen“ gezeichnet wird. Wir wissen nämlich eigentlich sehr wenig von den Täufern in Münster selbst. Fast alle Berichte stammen von den Gegnern oder Überläufern: voller Polemik, geprägt von Stereotypen und Überzeichnungen. Und diese schufen die Grundlage für ein sehr langes Nachwirken dieser Fremdbilder – bis hinein in TV-Dokus, Romane oder in den „Tatort“.

Befreit man diese täuferische Episode von aller Polemik, so können drei Feststellungen gemacht werden. Erstens war die Herrschaftsauffassung der Münsteraner Täufer vergleichbar mit jener anderer Regenten der Zeit – ein autoritärer König, der seine Herrschaft mit verschiedensten Mitteln versuchte zu festigen, der einen Hofstaat und eine entsprechende Repräsentation aufbaute, konfessionelle „Reinheit“ durchsetzen und Gegner ruhig halten wollte und Revolutionäre hinrichtete. Dies war Politik der Zeit, aber eben eigentlich nicht täuferisch, wenn man die große Mehrheit der Täufer anschaut.

Zweitens lassen sich aus „Münster“ einige Muster herauslesen, was die Verbindung von Politik und Religion angeht. Es war in der Reformationszeit generell keine seltene Entwicklung, dass das städtische Bürgertum versuchte, sich auf den Flügeln der Reformation von ihren Stadtherren zu emanzipieren. Die geistliche Veränderung stellte die Machtfrage. Da die Täufer die Führung im Stadtrat hatten, mussten sie nun auch politisch handeln. Doch diese Politik war von Anfang dadurch geprägt, dass der Bischof von Minden, Münster und Osnabrück seine Stadt zurückerobern wollte. Der Druck durch die Belagerung gab der Frage der Gewalt in Münster eine ganz andere Bedeutung als anderswo. Was hätten diese Täufer in Münster denn machen sollen, außer zu den Waffen zu greifen? Alles andere hätte den sofortigen Untergang bedeutet. Zudem gaben die apokalyptischen Ideen der täuferischen Bewegung in Münster ihren eigenen „Drive“.

Drittens ist „Münster“ ein Paradebeispiel dafür, wie mit einem einzigen Ereignis eine ganze Bewegung, eine konfessionelle Minderheit, dauerhaft diffamiert werden kann. Die Geschehnisse von Münster wurden zum Damoklesschwert für alle anderen täuferischen Gruppen. Jene, die Gewalt ablehnten, nach Gewissensfreiheit riefen und Distanz zur Politik zeigten, wurden nun mit „Münster“ gleichgesetzt. Man warf allen Täufern vor, dass ihre Lehre doch nur zu Rebellion und Aufstand führen würde. Mit dem Verweis auf Münster konnten Täufer sehr lange zum Sündenbock gemacht werden.

Was muss man über die Täuferbewegung wissen?

Münster ist eine winzige und außergewöhnliche Episode der täuferischen Geschichte. Die Täufer waren eine reformatorische Bewegung, die sich ein sehr mündiges Christsein auf die Fahnen schrieb und Menschen dazu aufrief, verantwortlich nach dem Evangelium, vor allem auf der Basis der Bergpredigt, zu handeln. Allen Täufern war es ganz wichtig, den Glauben auch zu leben, in der Nachfolge Jesu Christi authentisch zu sein. Die Täufer wurden jedoch rasch kriminalisiert – auf ihren Glauben stand die Todesstrafe. Ihre Ideen waren politisch nicht konform.

Und die Täufer waren sehr vielfältig, was pauschale Antworten, wer die Täufer gewesen seien, schwierig macht. Da blühten viele verschiedene Pflänzchen in diesem täuferischen Garten. Es gab täuferische Gemeinden, die stärker abgesondert, in Gütergemeinschaft und strikt gewaltfrei lebten, wie die Hutterer in Mähren. Andere Gemeinden waren etwas pragmatischer, was ihre Einstellung zu Gesellschaft und Politik anging. Balthasar Hubmaier etwa, der in Nikolsburg eine täuferische Reformation durchgeführt hatte, gestand einem (täuferischen) Christen zu, ein Amt in der Obrigkeit zu übernehmen und das Schwert als ordnungsstiftendes Mittel einzusetzen – also Recht zu sprechen und Strafen auszuführen. Und selbst die Bedeutung der Erwachsenen- und Glaubenstaufe wurde unterschiedlich gesehen.

All diese vielen verschiedenen täuferischen Gruppen und Gemeinden werden leider überblendet von den Täufern von Münster – bis heute. Menno Simons, auf den die Mennoniten zurückgehen, führte nach 1534 einen unermüdlichen Kampf gegen die Gleichsetzung seiner täuferischen Gemeinden mit den Ereignissen von Münster.

Im Krimi erinnert Assistentin Silke Haller – gespielt von Christine Urspruch – daran, dass Jan van Leyden sehr wohl auch ein radikaler Mensch war, der auch vor der Todesstrafe nicht zurückschreckte. Wie ließ sich das historisch gesehen mit dem Gedanken, entschiedenes Christentum leben zu wollen, unter einen Hut bringen?

Ich glaube, da sind eher der Mythos von Münster und die Rückprojektion heutiger Wahrnehmungen am Werke. Entschiedenes Christentum und Todesstrafe schlossen sich im 16. Jahrhundert nicht aus – weder in der lutherischen noch in der reformierten noch in der täuferischen Reformation. Die Herrschaft der Täufer in Münster muss in ihre Zeit eingeordnet werden. Die Täufer errichteten eine theokratische Herrschaft, orientiert am Alten Testament. „Zwölf Ältesten“ oblagen die Verteidigung der Stadt und die Gerichtsbarkeit. Basis für Letztere waren die Zehn Gebote. Und die Todesstrafe war letztendlich eine „normale“ Strafe, so hart das für unsere heutigen Ohren klingen mag. Man muss sich vor Augen führen: Hinrichtungen waren Massenereignisse; Spektakel, zu denen die Zuschauer hinströmten.

Jan van Leyden förderte in Münster auch die Vielehe.

Auch der voyeuristische Blick auf die Vielehe, der in keiner Doku über die Täufer fehlt, muss in die historischen Zusammenhänge eingeordnet werden. Es gab in Münster einen Frauenüberschuss. Um die unverheirateten Frauen in die Ordnung der Stadt zu integrieren, war die Ehe ein geeignetes Mittel. Es war ja generell im 16. Jahrhundert nicht üblich, dass Frauen alleine oder unverheiratet blieben. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass diese Vielehen überhaupt nie vollzogen wurden, sondern lediglich dazu dienten, die alleinstehenden Frauen zu versorgen. Dies entkleidet die Vielehe aller nachträglicher Bilder von Zügellosigkeit, Orgien und Unersättlichkeit.

Kommissar Thiel weiß im Krimi, dass der Bischof von Osnabrück schließlich die Stadt stürmen ließ. Das ist aber wohl nur die halbe Wahrheit, denn an der Erstürmung der Stadt waren auch protestantische Truppen beteiligt. Wie kam es zu der unheiligen Allianz?

Diese Allianz war gar nicht so „unheilig“, sondern realpolitisch. Wenn es gegen die Täufer ging, waren sich Protestanten und Katholiken meist ganz schnell einig. Übrigens gibt es Forschungsmeinungen, die davon ausgehen, dass die polemischen und überzeichneten Berichte über die Täufer in Münster auch deshalb entstanden, weil der Bischof um Geld und Truppen für die Rückeroberung seiner Stadt werben musste.Letztendlich wirkte diese Propaganda und Truppen aus verschiedensten Territorien des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation unterstützten den Bischof von Münster. Aber: Kriege und die Belagerung von Städten kosteten. Deshalb war es für den Bischof gar nicht so leicht, diese Truppen zusammenzustellen.

Im Krimi erklärt der Kommissar dem Gerichtsmediziner, dass van Leyden auf dem Prinzipalmarkt der Stadt öffentlich gefoltert und danach hingerichtet wurde. Die Gebeine des Täuferkönigs und die Bernd Krechtings und Bernd Knipperdollings wurden danach in Eisenkäfigen an den Turm der Lambertikirche gehängt.

Um auch dieses grausame Bild der in den Käfigen an der Lamberti-Kirche „ausgestellten“ Täufer etwas zu relativieren: Das Rechtssystem des 16. Jahrhunderts war auf Abschreckung ausgerichtet. Deshalb war es üblich, hingerichtete Rebellen zur Schau zu stellen, um potentielle Nachahmungstäter abzuschrecken. Und im Fall der Täufer lief gleich nach der Hinrichtung der Protagonisten die Propagandamaschinerie an. Schon für Juli 1535 ordnete der Bischof einen bistumsweiten Gebetstag an. Und jeweils am 24. Juni, dem Tag der Einnahme der Stadt durch die bischöflichen Truppen, feierte man, wohl bis zum Jahr 2001, Dankgottesdienste; an runden Jahrestagen verbunden mit Dankprozessionen. Die Täufer wurden zu einem lang wirkenden Erinnerungsort – das wird im „Tatort“ ja auch deutlich.

Welche Rollen spielten Krechting und Knipperdolling in dem Täuferreich von Münster?

Bernd Krechting und Bernd Knipperdoling gehörten zu den führenden Personen in der täuferischen Gesellschaft der Stadt Münster; beide wurden als „verbrecherische Menschen“ mit Jan van Leyden hingerichtet und an der Lamberti-Kirche zur Schau gestellt. Knipperdoling war ein angesehener Tuchhändler mit einem repräsentativen Haus am Prinzipalmarkt. Er hatte den Posten des Bürgermeisters und später des königlichen Statthalters inne. Krechting war Mitglied des vierköpfigen königlichen Rates. Noch wichtiger war sein Bruder Heinrich gewesen, Kanzler und somit wichtigster Mann nach Jan van Leyden. Heinrich Krechting konnte jedoch fliehen und starb viele Jahre später als angesehener Mann im heutigen Friesland.

Die Käfige hängen noch heute an der Kirche. Wurden, außer in Münster, auch anderenorts Täufer verfolgt und womöglich sogar umgebracht?

Ja, Täufer wurden in allen Regionen des Heiligen Römischen Reichs verfolgt. Auf den täuferischen Glauben stand die Todesstrafe. Allerdings haben sich nicht alle Landesfürsten an diese strikten Normen gehalten. In Württemberg oder in Hessen-Kassel beispielsweise setzte man auf die Unterweisung der Täufer im „richtigen“ Glauben. Insgesamt sind wohl zwischen 1.000 und 1.500 Täufer hingerichtet worden – die genauen Zahlen zu erheben, ist schwierig. Der Hauptvorwurf war nicht, wie man annehmen könnte, die „Wiedertaufe“, sondern „Aufruhr“ und „Rebellion“. Die Täufer stellten mit ihrer Gewaltfreiheit und ihrer Distanz zu Politik und Gesellschaft wesentliche Parameter gesellschaftlich-politischer Ordnung infrage. Und die Politik des 16. Jahrhunderts setzte hier ganz klare Grenzen. Was für uns heute selbstverständlich ist, war im 16. Jahrhundert nicht „sagbar“.

Und selbst wenn die Mehrheit der Täufer mit ihrer kritischen Einstellung zur Politik die Obrigkeit nicht komplett infrage stellte – das Beispiel Münster war Beweis genug, dass jegliche Kritik nur in eine Rebellion führen würde. Somit zeigt die Geschichte der Täufer auch: Eine religiöse Minderheit stigmatisiert und kriminalisiert man am besten, wenn man ihr politische Illoyalität vorwirft. Leider gilt dies bis heute.

Das Interview haben wir schriftlich geführt. Die Historikerin ist Leiterin der Mennonitischen Forschungsstelle. Im Juni ist ihr Buch „Täufer. Von der Reformation ins 21. Jahrhundert“ erschienen.

Von: Norbert Schäfer

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