Es müssen zwei Versionen des Koran im Umlauf sein. Anders ist nicht zu erklären, warum westliche Intellektuelle nirgends Aufrufe zu Gewalt und Unterdrückung darin finden können, während sich Islamisten weltweit auf den Koran berufen. Das „Philosophie Magazin“ widmet einer der beiden Koran-Versionen ein Sonderheft. Eine Rezension von Jörn Schumacher
Von Jörn Schumacher
Foto: Philosophie Magazin / Fotomontage: pro
Das Philosophie-Magazin hat die Sonderausgabe „Der Koran“ herausgebracht
Es ist erstaunlich: Wer sich ein Enthauptungsvideo ansieht, wer die Begründung einer islamistischen Terrorgruppe für den jüngsten Anschlag liest, wer den Predigten der Salafisten auch hierzulande lauscht, hört viel von Allah, seinem Propheten und was der Koran über deren Verhältnis gegenüber Nichtmuslimen sagt. Doch wer einen Islamwissenschaftler fragt, woher der Hass im Islam kommt, hört vor allem eine Lobeshymne auf wundervolle Poesie.
Von den Machern eines Philosophie-Magazins würde man Begeisterung für die Aufklärung erwarten, die Ablehnung des Alleinherrschaftsanspruches irgendeiner Religion und die kritische Analyse von geistigen Strömungen, die zur Unterdrückung anderer Menschen aufruft. Wer das Sonderheft „Der Koran“ des Philosophie-Magazins aus Berlin durchliest, findet davon allerdings nicht viel. Stattdessen ergeht sich das Heft auf über 90 Seiten in einer Ode an das Buch, das „Ungläubige“ geköpft sehen will, das Frauen unter den Mann stellt und das ausschließlich Allah die Gewalt über Leben und Tod unterstellt. Die Gegenaufklärung – sie lebt.
„Poetisches Wunderwerk“
Von „Allah“ ist im Koran-Sonderheft aber ohnehin nie die Rede, sondern von „Gott“. Islam, Christentum, Judentum, wo ist da der Unterschied? Der Islam habe heutzutage in Europa ein „Imageproblem“, schreibt die Chefredakteurin Catherine Newmark im Vorwort. Durch die Sonderausgabe ihres Magazins ziehe sich eine Spannung zwischen Glaube und Vernunft. „Es ist die Kernspannung auch der über Jahrhunderte umkämpften europäischen Aufklärung. Sie führt nicht zuletzt auf die Frage nach der menschlichen Freiheit im Angesichts Gottes.“ Dass im Folgenden aber eben nicht vom Christentum (das die Aufklärung durchlebt hat), sondern vom Islam, von Allah, und eben nicht von Gott oder Jahweh, und eben vom Koran, und nicht von der Bibel die Rede ist, – geschenkt.
Der Koran sei vor allem als schöne Poesie zu sehen. Das zu betonen, ist vielen Autoren des Heftes wichtig. Es sei im Grunde kein Gesetzesbuch, sagt Angelika Neuwirth, Professorin für Arabistik, im Interview. Erst etwa seit dem Jahr 1900 werde das Buch „missbraucht“ als Nachschlagewerk für Probleme. Der Koran habe im Westen stets ein schlechtes Ansehen gehabt, aber einen Grund kann oder will Neuwirth nicht nennen. Hat das eventuell etwas mit der gewaltsamen Eroberung zu tun, welche die muslimischen Herrscher im Namen des Koran durchführten? Das fragt sich bestimmt mancher Leser, der darauf keine Antwort bekommt, auch nicht von einem Historiker.
Denn auch der deutsche Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani, der in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, beschränkt sich darauf, den Koran als poetisches Wunderwerk zu bezeichnen. Ein „Wunder“ sei denn auch die „arabische Expansion“ gewesen. Ausgelöst wurde sie wahrscheinlich durch die entwaffnende Schönheit der Dichtung im Koran. In seinem Text mit dem Titel „Gott ist schön“ lobt Kermani die Ästhetik des Textes, der bei vielen Lesern „Verzückung“ auslöse. Der Koran „begeistere, beglücke, erschüttere oder entsetze“ viele Menschen, „jedenfalls bewegt, oft geradezu hypnotisiert, in Ekstase versetzt und im Extremfall getötet“. Im Extremfall können Texte eben töten, weniger Schwerter oder Krummsäbel, die geschwungen werden, weil sich deren Halter im Besitz der alleinigen ewigen Wahrheit wähnt. Auch der Islamwissenschaftler und Autor Stefan Weidner kommt zu dem (einzigen) Schluss: „Der Koran klingt wie moderne Poesie.“
Sollen Männer Frauen schlagen?
Sogar „feministische Exegetinnen“ kämen prima klar mit dem Koran, erklärt der ehemalige Islamwissenschaftler Stefan Wild: „Sie betonen, dass andere Stellen im Koran Mann und Frau durchaus als gleichwertig nebeneinanderstellen. Und schließlich sagen sie: Da steht zwar: ‚schlagt sie‘, aber das müsse man in dem Zusammenhang der patriarchalen Gesellschaften des 7./8. Jahrhunderts sehen, also einer historisch längst vergangenen Zeit.“ Kein Wort dazu, dass eben heute noch genügend geistliche Führer, Regierungs- und Bandenchefs den Koran eben genau als das nehmen, was er von sich behauptet: das immergültige Wort Gottes.
Die pakistanische Literaturwissenschaftlerin und Politologin Asma Barlas behauptet in ihrem Text, dem Koran sei die Emanzipation der Frau „inhärent“. Wenn Frauen in der islamischen Welt unterdrückt werden, habe das wenig mit dem Koran zu tun, sondern vielmehr mit den ohnehin in den jeweiligen Ländern vorherrschenden patriarchalen Gesellschaftsformen. Aber warum fallen dann immer wieder strenggläubige Ausprägungen des Islam und eine geringe Stellung der Frau in der Gesellschaft zusammen?, fragt sich der Leser. Es liegt wohl immer eine falsche Koran-Auslegung vor, wird dem Leser nahegelegt. Nur Islamwissenschaftler können offenbar nach jahrelanger Analyse erkennen, dass Anweisungen im Koran in Wirklichkeit keine seien. „Der Koran lehrt uns im Gegenteil eine radikal egalitäre Vision des Wertes und der Würde der Frau, zu der es auch im modernen Denken nichts Vergleichbares gibt“, schreibt Barlas.
Die Islamwissenschaftlerin Amina Wadud gibt in ihrem Beitrag zwar zu, dass der Koran vorschreibe, dass der Mann über der Frau stehe, doch das Patriarchat sei „weder ewig noch universell“. Auch, wenn es im Koran stehe, und der Koran ja an sich einen ewigen und universellen Anspruch erhebt. Dasselbe gilt für die Todesstrafe: Natürlich steht davon etwas im Koran, aber das sei heute nicht mehr zeitgemäß, findet der tunesische Soziologe Abdelmajid Chafri in seinem Beitrag.
Thorsten Gerald Schneiders, Islam- und Politikwissenschaftler und Herausgeber des Buches „Salafismus in Deutschland: Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung“ stellt fest, Fundamentalismus im Islam habe es schon immer gegeben. Er fügt aber hinzu: „Der Begriff selbst kommt ja aus einem christlichen Kontext.“ Und Steinigungen habe es in der Geschichte des Islam kaum gegeben, behauptet Schneiders. Für Steinigungen gebe es in der arabischen Literatur über 1.200 Jahre „allenfalls zwei oder drei historische Aufzeichnungen“.
Kein einziger Islamkritiker im Heft
Das Sonderheft „Der Koran“ schafft es, das Thema zwar mit 38 Stimmen von Experten und Gelehrten zu behandeln, ohne darunter auch nur einen einzigen namhaften Islamkritiker zu Wort kommen zu lassen, von denen es bekanntermaßen viele gibt. Wahrscheinlich sind all diese Kritiker im Besitz der falschen Koran-Version und daher nicht qualifiziert, das Thema in irgendeiner Weise für den Leser erhellend zu beleuchten. Dabei hätten bekannte Zeitgenossen wie Neçla Kelek, Hamed Abdel-Samad oder Ayaan Hirsi Ali vielleicht ebenfalls Interessantes zum Koran sagen können. Schiedsgerichte, Scharia, Ehrenmorde, Salafisten, die Unterdrückung von Frauen, Hetze gegen Juden, all dies findet offenbar nicht oder aber in einem luftleeren Raum statt und hat mit dem Koran so viel zu tun wie die Aufklärung mit einer Diktatur. Auffällig ist zudem, dass der Koran selbst, um den es im Heft ja geht, praktisch überhaupt nicht zitiert wird. Vielleicht aus Sorge, der Leser könne ihn falsch interpretieren? Immerhin hat nicht jeder ausreichend lange Islamwissenschaft studiert. (pro)
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