Der kleine Junge mit den vier Eltern

Ralf Lengen ist fünf Jahre alt, als seine Mutter eine folgenschwere Entscheidung trifft: Sie gibt ihn in eine Pflegefamilie. In einem Buch arbeitet er die damaligen Erlebnisse auf und nennt Wünsche, wie die Gesellschaft mit dem Thema umgehen soll.
Von Johannes Blöcher-Weil
Der Autor Ralf Lengen

Bis zum fünften Lebensjahr scheint für Ralf Lengen die Welt in Ordnung zu sein. Als Jüngster von drei Geschwistern wächst er im Iran, dem Heimatland seines Vaters, auf. Seine deutsche Mutter nutzt einen Heimaturlaub nicht nur, um die Scheidung einzureichen, sondern auch für eine andere weitreichende Entscheidung. Per Zeitungsannonce sucht sie für ihren jüngsten Sohn Pflegeeltern. Für Lengen bricht eine Welt zusammen.

Später fragt er seine Mutter, warum sie entschieden hat, ausgerechnet ihn wegzugeben. „Du hattest am meisten Fürsorge nötig“, sagt sie ihm. Es sind Worte, die bis heute in ihm arbeiten. Aus Sicht seiner Mutter sei die Entscheidung nachvollziehbar gewesen. Für das Kind in ihm bleibe unklar, warum er bei so hohem Fürsorgebedarf nicht einfach bei ihr bleiben durfte. Der Fünfjährige hat keine andere Wahl und muss sich mit der Situation arrangieren. Es dauert noch mehr als 40 Jahre, bis Lengen das Erlebte aufarbeitet.

Schon einige Wochen nach der Zeitungsannonce beginnt für Lengen ein neues Leben. Im neuen Umfeld fühlt er sich zwar wohl und geborgen. Doch von einem Moment auf den anderen ist er Einzelkind. Das soll noch sechs Jahre so bleiben. Auch sonst war manches anders. „Im Gegensatz zu meinen Freunden sah ich nicht so aus wie meine Eltern.“ Zudem kann er mit niemandem seine Sorgen und Nöte teilen, die er wegen der Adoption hat.

Adoption als „uneindeutiger Verlust“

Um auch eine räumliche Distanz von ihrem alten Leben zu schaffen, verlässt seine Mutter Oldenburg, wo Lengen wohnt, und zieht nach Bremen. Sie lädt ihn noch einmal für eine Woche zu sich ein, aber nach zwei Tagen will er wieder zurück „nach Hause“. Auch der Vater möchte ihn gerne zu sich holen, was aber an der Mutter scheitert. Der Kontakt zu ihr beschränkt sich bald nur noch auf Weihnachten und die Geburtstage.

Ralf Lengen im Alter von fünf Jahren (Foto: privat)

„Ich hatte eine gute Kindheit als Pflegekind“, betont Lengen. Trotzdem mussten alle Beteiligten einen hohen Preis dafür bezahlen: sowohl seine ersten Eltern als auch seine Pflegeeltern und er selbst. Nicht gut genug für die eigene Mutter zu sein, nagte lange Jahre an Lengens Selbstwert: „Du fühlst dich wie ein Nichts.“

Kinder, die Eltern bei einem Unfall verlieren, dürften wie selbstverständlich um sie trauern, sagt Lengen. Auch Scheidungskinder bekämen Mitgefühl für ihre schwierige Situation. Adoptierte hingegen würden ermahnt, zufrieden und dankbar zu sein. Aus wissenschaftlicher Sicht handele es sich bei der Adoption um einen „uneindeutigen Verlust“. Diesen Begriff hat die amerikanische Familientherapeutin Pauline Boss im Zusammenhang mit Frauen von verschollenen Vietnam-Kämpfern etabliert.

Diese Frauen konnten nicht endgültig mit dem Verlust ihrer Männer abschließen, solange nicht klar war, ob diese gestorben waren. Ähnlich gehe es Adoptivkindern mit ihren ersten Eltern. Da Lengen aufgrund des Vetos seines ersten Vaters nicht zur Adoption freigegeben wurde, hätte er als Pflegekind noch lange von seiner Mutter zurückgeholt werden können.

„Erst als ich diesen Schmerz erfasst hatte, konnte ich vergeben.“

Bis vor ein paar Jahren hat Lengen das Thema verdrängt. Eines Tages geht er mit eigenen familiären Problemen zu seinem Pastor und beginnt, „das Adoptions-Paket aufzuschnüren“. Kompromisslos stellt sich der damals 46-Jährige seinem Schmerz und beschönigt nichts: „Erst als ich diesen Schmerz erfasst hatte, konnte ich vergeben.“ Das schaffe man aber nicht in zwei „Seelsorge-Stündchen“.

Ihm habe dabei eine Trauma-Therapie geholfen. Es fließen „heilsame Tränen“. Lengen spricht mit vielen anderen Betroffenen und liest zahlreiche Bücher, bis er seine eigene Lebensgeschichte zu Papier bringt. In seinem Buch „Ins neue Leben getreten“ verzichtet er bewusst auf Ratschläge. Es gehe ihm vor allem darum, die Sicht aller Seiten verständlich zu machen.

Lengen freut sich über die Perspektive, die ihm die Bibel in seiner Situation gibt: „Ich weiß, dass ich von Gott gewollt bin. Daher kann ich denen, die von ihrer Mutter gewollt waren, auf Augenhöhe begegnen.“ Zwei Bibelverse bestärken ihn darin: Sowohl im Buch Jesaja als auch in den Psalmen verspricht Gott, dass er die Menschen nicht verlässt und sie aufnimmt, auch wenn Vater und Mutter sie verlassen.

Überhaupt sei Adoption ein Thema in der Bibel. Das erste prominente Adoptivkind sei Mose gewesen, erklärt Lengen: „Seine Mutter hat ihn weggegeben, um sein Leben zu retten.“ Lengen zieht für sich aus dem biblischen Text, dass Gott beide Familien von Mose anerkennt. Auch bei Jesus werde im Stammbaum der Adoptivvater genannt: Joseph. Ob die Gesellschaft heute bei dem Thema weiter ist als zu biblischen Zeiten, bezweifelt Lengen.

Der Wunsch nach Familie mit Kindern

Adoptiveltern würden oft von Menschen wegen ihres Mutes bewundert, ein fremdes Kind aufzuziehen, sagt Lengen. Zugleich aber würden sie bemitleidet nach dem Motto „Das ist ja nicht wirklich ihr Kind“. Ihre Elternschaft werde häufig nicht vollständig anerkannt. Das macht Lengen traurig. Einer, der diesen Schritt einer Adoption bewusst gegangen ist, ist der christliche Verleger David Neufeld. Als für ihn und seine Frau feststand, dass sie keine eigenen Kinder bekommen können, haben sie sich beim Jugendamt in Regensburg gemeldet: „Wir hatten trotzdem den Wunsch, Familie mit Kindern zu leben. Wir haben damals angegeben, dass es auch ein Kind mit Behinderung sein kann.“

Von den Verantwortlichen im Jugendamt wurden sie dann auf diesen Schritt vorbereitet. So konnten sie zunächst Alexander und einige Jahre später auch Samuel adoptieren. Beide Kinder haben das Down-Syndrom. In beiden Fällen konnten sich die leiblichen Eltern offenbar nicht vorstellen, sich auf ein Kind mit dieser genetischen Besonderheit einzulassen. Mit ihren kognitiv stark eingeschränkten Kindern feiern die Neufelds jedes Jahr einen Entdecker-Tag. „Alexander weiß, dass er nicht im Bauch seiner Mama war, Samuel berührt das überhaupt nicht. Er fühlt sich gut, wenn er sicher und geliebt ist“, verdeutlicht Neufeld im Gespräch mit PRO. Jeder Tag mit ihnen sei eine neue Herausforderung: „Sie sind aber auch eine gute und kraftvolle Inspiration.“

David Neufeld mit Samuel und Alexander, die er und seine Frau adoptiert haben. (Foto: privat)

Für die Familie habe die Adoption enorme Auswirkungen auf ihr Leben gehabt, auch weil sie um den Unterstützungsbedarf der Jungen wussten: „Wir stoßen oft spürbar an unser Grenzen, aber Alexander und Samuel bereichern unser Leben zugleich enorm.“ Ein großes persönliches Netzwerk und der Austausch mit anderen Betroffenen seien daher wichtig.

Zwei Familien, vier Eltern

Lengen bedauert es, dass aus seiner Sicht über das Thema öffentlich immer noch zu wenig geredet werde. Er zitiert Nancy Verrier, nach der „Adoption das einzige Trauma ist, wo von den Betroffenen erwartet wird, dankbar zu sein“. Dabei sei vieles daran auch schambesetzt, weil es um Sexualität gehe. In seinem Umfeld hätten viele Menschen auch nicht gewusst, wie sie ihm bei dem Thema begegnen sollten – und deswegen geschwiegen. Erst im Gespräch mit anderen Betroffenen habe er gemerkt, dass er mit seinen Problemen nicht alleine sei.

Lengen ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Er wünscht sich, dass die Gesellschaft sich dem Thema öffnet und anerkennt, dass Adoptierte zwei Familien und vier Eltern haben, „die nicht gegeneinander auszuspielen sind“. Auch sollte jeder den Schmerz adoptierter Kinder stärker wahrnehmen. Und wenn über das Thema gesprochen werde, „dann bitte mit den Adoptierten und nicht nur mit ihren Eltern“. Auch Gemeinden sollten sich mit dem Thema beschäftigen, betont Lengen. Denn schon rein statistisch dürfte jede Gemeinde davon betroffen sein.

Der Artikel ist erstmals in der Ausgabe 2/2023 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen.

Ralf Lengen, geboren 1968, ist Inhaber der Kommunikationsagentur „unique relations“ sowie von „Meistertricks – Besser schreiben, reden und managen mit Salomo & Co.“, wo auch sein Buch „Ins neue Leben getreten“ erschienen ist. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

Adoptiv- und Pflegekinder

Zwischen Adoptiv- und Pflegekindern gibt es rechtliche Unterschiede. Adoptierte Kinder sind rechtlich alleinige Kinder ihrer Adoptiveltern. Diese haben zum Beispiel das Sorgerecht und die Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind. Pflegekinder hingegen bleiben rechtlich alleinige Kinder ihrer leiblichen Eltern. Aber auch die Pflegeeltern können unter bestimmten Voraussetzungen das Sorgerecht für das ihnen anvertraute Pflegekind übernehmen. Wer ein Kind adoptieren möchte, muss nach dem deutschen Recht unbeschränkt geschäftsfähig und mindestens 25 Jahre alt sein. In Deutschland dürfen Adoptionen nur von bestimmten Stellen vermittelt werden: über das Jugendamt oder über konfessionelle oder nicht-konfessionelle Adoptionsstellen. Sie haben den Auftrag, für jedes zu vermittelnde Kind die Eltern auszuwählen, die am besten zu ihm passen. Sie prüfen auch, ob die Adoptionsbewerber von ihrer Gesundheit und ihrer Persönlichkeit her dazu geeignet sind, ob ihre Partnerschaft stabil ist, ob sie in wirtschaftlich sicheren Verhältnissen leben und ob genug Wohnraum vorhanden ist. Dabei stehen das Wohl des Kindes und seine Rechte und Bedürfnisse im Mittelpunkt. Es besteht kein Rechtsanspruch auf Vermittlung eines Kindes.

Adoptionen in Deutschland: Im Jahr 2021 wurden in Deutschland 3.843 Kinder adoptiert. Das waren 2 Prozent mehr als im Vorjahr (+69 Fälle). Zwei Drittel davon wurden von ihren Stiefvätern oder Stiefmüttern angenommen. Laut Statistischen Bundesamt wurden die Stiefkinder dabei immer häufiger im Säuglings- oder Kleinkindalter von unter 3 Jahren adoptiert: Dieser Wert stieg in den letzten Jahren von 6 auf 27 Prozent. Die Zahl aller Adoptionen ging dagegen im Zehnjahresvergleich um 5 Prozent zurück (-217 Fälle)
Quelle: Statistisches Bundesamt


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