Der Autor, der selbst einige Jahre in Jerusalem gelebt und gearbeitet hat, beobachtet stets aufs Neue, dass das Bild, das Christen vom Judentum haben, ein eher negatives ist. Seit dem Holocaust habe zwar ein Umdenken eingesetzt, trotzdem seien viele christliche Gemeinden immer noch der Meinung, „dass die Person Jesus nur dann richtig zum Vorschein kommt, wenn man sie vom dunklen Hintergrund seiner jüdischen Umwelt deutlich abhebt“. Und auch ausdrückliche Israelliebhaber seien davor nicht gefeit: Sie liebten zwar den Staat Israel und seine Bürger, die Zeitgenossen von Jesus aber würden sie verurteilen. Gründe dafür sieht der Theologe sowohl in der deutschen Vergangenheit als auch in schlichter Unkenntnis.
80 prominente Missverständnisse
In acht Kapiteln stellt Guido Baltes 80 Missverständnisse dar, die wohl jeder schon so oder so ähnlich gehört, gelesen oder selbst vertreten hat. Beispielsweise habe Jesus die Ehebrecherin vor einer Steinigung bewahrt (zur Zeit Jesu wurde diese Strafe jedoch schon seit Generationen nicht mehr praktiziert), ebenso habe er den Kontakt mit ausgestoßenen Leprakranken nicht gescheut (Aussätzige lebten jedoch nicht abgeschieden, sondern waren sogar verheiratet und hatten Familie). Auch würden viele Christen denken und predigen, dass Jesus die jüdischen Speisegebote aufgehoben und den Sabbat gebrochen habe. Diese Beispiele machten deutlich, wie sehr Jesus von westlichen und postmodernen Christen nicht als Sohn Gottes dargestellt werde, der ein toratreuer Jude war, sondern als der große Gesellschaftsveränderer, der das religiöse System revolutionierte. Das beeinflusse auch die Sicht auf das Judentum: Es sei eine Religion, in welcher man sich den Himmel verdienen müsse, während das Christentum eine Religion der Gnade sei.
Rabbinische Quellen
Baltes, der im Christus-Treff in Marburg mitarbeitet, schafft es, prägnant formulierte Missverständnisse zu korrigieren, indem er das religiöse und gesellschaftliche Leben zur Zeit Jesu schildert. Dazu greift er hauptsächlich auf die Schriften der Rabbinen zurück, in denen unter anderem das Erbe der Pharisäer festgehalten ist. Diese Quellen stammen jedoch aus deutlich späterer Zeit. Da sie zum Teil auch in der Intention der deutlichen Abgrenzung vom entstehenden Christentum verfasst wurden, muss man sie kritisch hinterfragen. Dies ist Baltes auch bewusst: „Nicht alles, was darin [in diesen rabbinischen Quellen] steht, kann unhinterfragt für die Zeit Jesus vorausgesetzt werden“. Trotzdem bezieht er sich häufig auf sie und lädt ein, jüdische Bibelauslegung selbst zu lesen, um Anregungen für die eigene Exegese zu erhalten, aber auch um die Gedankenwelt des frühen Judentums kennenzulernen. Wünschenswert wäre an dieser Stelle ein klareres Bekenntnis zur Bibel gewesen. Es ist von Vorteil, die rabbinischen Schriften zu kennen, aber es handelt sich wohl um Menschenwort und nicht um das inspirierte Wort Gottes.
Schwierige Dinge gut erklärt
Guido Baltes‘ Gedanken sind nicht neu; sie werden in der wissenschaftlichen Literatur schon seit einiger Zeit diskutiert – auch gemeinsam mit jüdischen Vertretern. Der Autor möchte mit seinem Buch diese Erkenntnisse der breiten Öffentlichkeit auf eine gut verständliche Art zugänglich machen. Eines seiner Ziele, „schwierige Dinge in einfache Worte zu fassen“, ist ihm gelungen. Durch Exkurse in extra Kästen mit weiterführenden Literaturangaben ist das Buch auch für all diejenigen interessant, die sich tiefer mit der Thematik beschäftigen wollen.
Am Ende des Buches ist klar: Jesus war kein Revolutionär, wie er von vielen prominenten Autoren (beispielsweise John Eldredge, Shane Claiborne, Alan Hirsch…) dargestellt wird. Gott selbst wurde Mensch – ein jüdischer Mensch. Er bestätigte seine bisherigen Worte und Taten, von denen das Alte Testament berichtet; löste sie nicht auf. Das Buch fordert heraus, liebgewonnene und oft gehörte Auslegungen zu überdenken und die jüdische Umwelt zur Zeit Jesu besser kennenzulernen. Es ist Pflichtlektüre für jeden, der die Bibel auslegt.
Guido Baltes: „Jesus, der Jude und die Missverständnisse der Christen.“ Francke, 288 Seiten, 12,95 Euro, ISBN: 978-3-86827-414-1