Die Glatze ist gut gebräunt. Das ist das erste, was bei Marcus Schneider auffällt. Unterhalb derselben schließt sich ein dunkler Vollbart an, in dem einige weiße Haare aufblitzen. Seine Arme sind fast vollständig mit Tattoos bedeckt. Auf dem rechten Oberarm prangt ein Totenkopf, in den ein Kruzifix gerammt ist. Selbst zwei Hände würden nicht reichen, um den kunstvoll bemalten, prallen Bizeps zu umfassen. Und dann diese O-Beine: Wenn er in flottem Schritt über die Gänge der Christus-Gemeinde huscht, könnte ihn vermutlich jeder Kreisklasse-Kicker tunneln. Ganz schnell geschlagen wäre allerdings der Fußballer, wenn er sich mit dem Pastor beim Bankdrücken messen müsste. Denn der 1,71 Meter kleine Gottesmann stemmt stramme 170 Kilo – das entspricht etwa einem mittelschweren Braunbären oder einem ausgewachsenen Hirsch. Der Mann hat jede Menge Kraft. Und jede Menge Fans.
Mehr als 14.000 Likes hat seine Facebook-Seite „Breitester Pastor Deutschlands“. Oft sieht er grimmig und fokussiert aus, wenn er Körperbemalung und Oberkörper in Pose bringt. „Sei mutig und stark“, ein Vers aus dem Alten Testament, ziert in verschlungener Schrift sein Shirt. Er dient dem Online-Netzwerker auch als Hashtag, als digitales Markenzeichen. Der Mann ist fotogen, er weiß es. Er hat Lust darauf, wahrgenommen zu werden. Steht mit nacktem Oberkörper im Schneegestöber und predigt lautstark über göttliche Motivation, die alle widrigen Umstände überwindet. Wenn der muskulöse Pastor ein Video postet, wird es schnell verteilt und von bis zu 50.000 Menschen gesehen. Seine Fangemeinde applaudiert virtuell, und in den Facebook-Kommentaren finden sich viele wie dieser: „Du bist ernsthaft der einzige religiöse Mensch, dem ich zuhöre. Top.“
Zunächst einmal erfüllt Marcus Schneider doch ein klassisches Pastoren-Klischee: Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Der 36-Jährige ist einer von sieben Pastoren der Wuppertaler Christus-Gemeinde, einer Pfingstkirche. Er predigt dort mehrmals im Jahr, arbeitet für das Sozialwerk der Gemeinde, das Kleidung und ausrangierte Möbel an Bedürftige verteilt. Und beim Kinderprogramm erzählt er den jüngsten Gottesdienstbesuchern von Jesus. Dass er, seit er Teenie ist, seinen Körper stählt, finden die Kids ziemlich cool. Und dass dieser noch dazu übersät ist von Tätowierungen, auch. Die Wuppertaler Gemeinde allerdings hat den etwas anderen Prediger ganz bewusst engagiert. Er soll den Draht zu jungen Leuten festigen, im Stadtteil ein Sportprojekt etablieren und genau so sein, wie er ist.
„Der Inhalt muss stimmen“
Harte Optik, aber liebevolle Botschaft – für den „breitesten Pastor“ ist das kein Widerspruch. „Ich bin seit 17 Jahren Pumper“, sagt Schneider, der drei bis fünf Mal wöchentlich ins Studio geht. „Ich lebe diesen Sport.“ Dennoch braucht der gläubige Muskelmann auch Rückendeckung. Denn Tattoos werden in frommen Kreisen teils leidenschaftlich diskutiert. Ist Körperbemalung mit der Bibel vereinbar? Da gehen die Meinungen wild durcheinander. Dass der Tattoo-Pastor mit Schlange und Totenkopf auf dem rechten Arm biblische Geschichten und göttliche Zusagen verbinden kann, überzeugt nicht jeden Kritiker. Schneider könnte dazu als studierter Theologe wohl viel sagen, auf Facebook tut er das auch ab und zu. Doch im Gespräch lächelt er nur vielsagend: „Ich möchte nahe bei den Bodybuildern und Tattoo-Freaks sein. Da sehe ich meine Mission. Diskussionen mit anderen Christen sehe ich nicht als meine primäre Aufgabe.“ Dass Einzelne aus der Gemeinde sich an ihm reiben, könne natürlich sein, sagt er. Aber wenn er ein Tattoofoto bei Facebook postet, ist Hauptpastor Friedhelm Holthuis einer der ersten, die „Gefällt mir“ klicken. Das hilft.
Das Gebäude der Christus-Gemeinde ist ein grauer Zweckbau. Nicht schön, aber anziehend: Am Sonntagmorgen füllt sich innerhalb von zehn Minuten der Parkplatz. Noch vor ein paar Tagen versammelten sich hier dutzende Bodybuilder aus ganz Deutschland und drückten tonnenweise Kilos für das Sozialwerk der Gemeinde. Die Aktion „Pumpen für den guten Zweck“ fand auch im Internet ein großes Echo. Die Christus-Gemeinde will ein Ort für Menschen jenseits der Kirchenstammgäste sein, sagt Daniel Hönke, der in Wuppertal zum Pastor ausgebildet wird und am Info-Point, einem riesigen weißen Tresen, die Gäste begrüßt. Zu den Gottesdiensten kommen bis zu 1.000 Besucher, dazu rund 200 Kinder mit eigenem Programm. Ein zweistelliges Wachstum könne die Gemeinde jährlich verzeichnen, sagt Hönke. Aber der 23-Jährige macht deutlich, worum es im Kern geht: „Die Verpackung mag cool sein, aber der Inhalt muss schon stimmen. Wir wollen Jesus ins Zentrum stellen.“ In der Gemeinde am Wuppertaler Stadtrand sei der medienpräsente, extravagante Pastor Schneider ein Teamplayer, sagt sein junger Kollege: „Hier ist Marcus einer von vielen.“
„Für die Medien bin ich ein Freak“
Für Journalisten ist Schneider eine prima Geschichte. Die Bild-Zeitung war schon da, Focus Online hat über ihn berichtet. Für das Regionalprogramm von Sat.1 wurde ein Beitrag gedreht. Und aktuell laufen Anfragen von RTL und Pro Sieben. Die Leitfrage ist immer gleich: Das soll ein Pastor sein? Muckibude statt Kanzel, Tattoo statt Talar – das zieht natürlich. „Für die Medien bin ich ein Freak“, sagt Schneider, der den Rummel genießt. „Mir gefällt das. Schließlich drucken sie fast alles, was ich sage.“ In der Tat: Spricht der knackige 36-Jährige von Jesus, ist das für viele Beobachter ein noch stärkeres Indiz für seine Durchgeknalltheit, Master in Theologie hin oder her. Posiert er mit Totenkopf-Tattoo auf dem prallen Bizeps, dann steht das in wunderbarem Kontrast zum medialen Prototypen des gewöhnlichen Theologen, der doch eigentlich konservativ, trocken und zurückhaltend sein müsste. Oder? Medien und Muskelmann – sie bestärken sich gegenseitig. „Breitester Pastor Deutschlands“ sei zwar ein Künstlername, aber kein PR-Gag, beteuert Schneiders Freund und Manager Nils Scharf, der die Medienanfragen koordiniert: „Wir wissen natürlich, dass wir ein gewisses Bedürfnis nach Außergewöhnlichem befriedigen. Aber die reale Person Marcus Schneider, Pastor und Familienvater, steht letztlich vor Kameras und Mikrofonen und kann über sein Leben reden. Und da geht es längst nicht nur um Muskeln und Tattoos.“
Fitness mit Jesus
Er mag ja vieles stemmen – aber heute hat der Muskelmann etwas Entscheidendes vergessen: Geschenkpapier. Eine halbe Stunde vor dem Gottesdienst steht Schneider im Keller der Gemeinde, in der einen Hand Stifte und Süßigkeiten, in der anderen das Smartphone, sein ständiger Begleiter. Heute wechseln einige Kinder aus den Kindergruppen in das Jugendprogramm, ein kleines Geschenk soll den Abschied versüßen. Schneider wird es übergeben – bislang allerdings sieht es ohne Verpackung wenig adrett aus. Dass man Geschenke auch einpacken könne, hat Schneider selbst gar nicht gemerkt. „Meine Frau meinte heute morgen, das wäre wohl besser“, entschuldigt er sich. „Ich kann so was ja überhaupt nicht.“
Erst seit wenigen Monaten ist Schneider Pastor in Wuppertal. Vorher war er in Norddeich, wo er mit anderen Gemeinden und christlichen Initiativen eine ehemalige Tennishalle zum Fitnesscenter umgebaut hat. Jugendliche können dort im „Strandleben“ nun gemeinsam trainieren, dazu gibt es Andachten und immer ein offenes Ohr. Das Konzept kam gut an, nun soll es auch an der Wupper Fitness in Verbindung mit christlichen Werten geben. „Kraftsport ist mein Lifestyle“, sagt Schneider, der sein Konzept „Konstruktive Freizeitgestaltung“ nennt. „Dazu stehe ich. Aber das Fundament meines Lebens darf kein Muskel sein. Das Fundament ist Jesus Christus.“
Später im Kinderprogramm tanzt Pastor Marcus wie ein wilder Boxer auf der Bühne. Eine Band spielt, zwischendurch machen die Kinder eine Polonaise durch den halben Raum. „Bärenstark bist Du, mein Gott“, kreischen sie völlig losgelöst. Viele tragen Basecaps, klatschen sich mit ihrem glatzköpfigen Pastor ab. Vielleicht können sie bald auch in der Kirchen-Muckibude mit ihm trainieren: Ein Standort dafür wird gerade gesucht, die Finanzierung bei der Stadt beantragt. Im Augenblick kann die Gemeinde nur eine halbe Stelle für Schneider zahlen. Deshalb arbeitet er noch halbtags im Meisterbetrieb eines Freundes als ungelernter Dachdecker. Dem Bizeps wird es nicht schaden. (pro)