Der Daten-Wahn greift um sich

Informationen sind wichtig für das tägliche Leben. Und viele Informationen sind mächtig. Das Buch „Das Ende des Zufalls“ des ehemaligen SAT1-Geschäftsführers Rudi Klausnitzer gibt einen Eindruck davon, wie die Welt aussehen könnte, wenn der normale Bürger die Kontrolle über den Datenwust verliert, den er täglich produziert. Konzerne oder Regierungen mit bösen Absichten könnten uns Menschen dann in der Hand haben. Und wir wären selbst schuld daran.
Von PRO

Das Buch von Rudi Klausnitzer, das im österreichischen „Ecowin-Verlag“ erschienen ist, ist wertvoll, denn es öffnet die Augen für ein Phänomen, das im Internet-Zeitalter zu einem echten Problem werden könnte. Während wir uns im Internet beschäftigen, einkaufen, kommunizieren und unser Privatleben mit anderen teilen, entsteht ein digitaler Zwilling von uns auf den Festplatten großer Unternehmen. Anhand dieser Daten können die Händler, oder wer sonst noch daran interessiert ist, unser Verhalten analysieren und schließlich auch vorhersagen. Klausnitzers Buch bietet eine große Zahl an Beispielen aus dem echten Leben, aber auch Utopien, in die uns die schöne neue Digital-Welt führen könnte. Der 65-jährige Unternehmer übernahm 1987 die Geschäftsführung und Programmdirektion von SAT1. Heute ist er Medienberater und entwickelt Projekte im Web 2.0- und Social Media-Bereich.

Klausnitzer berichtet etwa von der Kaufhauskette Walmart, die dabei ist, eine große Wissensdatenbank über ihre Kunden aufzubauen. Wenn Anna in einem sozialen Netzwerk postet „I love Salt“, dann soll das System wissen, dass es sich um den Spielfilm mit Angelina Jolie handelt, und nicht um Salz. Außerdem weiß die Datenbank, dass Anna bald Geburtstag hat, und so informiert sie ihre Freundin Julia darüber, dass eine DVD mit dem Film „Salt“ ein gutes Geschenk für ihre Freundin wäre. Es sind aber auch längst Szenarien denkbar, bei denen das Großunternehmen noch vor den Eltern weiß, dass ein Teenager-Mädchen schwanger ist. Die Algorithmen der Supermarktkette sind in der Lage, Muster im Verhalten der Kunden zu entdecken. In der Schwangerschaft greifen Frauen verstärkt zu unparfümierten Körperlotions, sie kaufen Spurenelemente wie Kalzium, Zink und Magnesium. Ein Wirtschaftswissenschaftler hat rund 25 Produkte identifiziert, deren Kauf auf eine Schwangerschaft der Kundin hindeuten. Die Supermarktkette schreibt nun die 16-jährige Kundin an und macht sie auf Produkte für schwangere Frauen aufmerksam. So erfuhren die bis dahin unwissenden Eltern von der Schwangerschaft ihrer Tochter.

Facebook-Likes verraten uns

„Big Data“ lautet der Modebegriff, den Klausnitzer in seinem Buch unter die Lupe nimmt. Dass es an der Zeit ist, sich mit dem Thema zu befassen, zeigt auch eine aktuelle Studie der Universität Cambridge (Großbritannien). Dank der „Gefällt mir“-Klicks im sozialen Netzwerk Facebook ist es möglich, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung und politische Einstellung der Nutzer zu bestimmen, ohne dass die etwas davon wissen. Die britischen Forscher untersuchten die „Likes“ von 58.000 Facebook-Nutzern in den USA und verglichen sie mit Antworten in Fragebögen. Bei der Bestimmung des Geschlechts lagen sie zu 93 Prozent richtig, die Hautfarbe konnten die Forscher zu 95 Prozent richtig bestimmen. Und das nur anhand der digitalen Spur in Facebook.
 
Sogar die Vorhersage, ob ein Mann homo- oder heterosexuell ist, stimmte in 88 Prozent der Fälle. Bei der Religion – Christ oder Moslem – und der Parteizughörigkeit – Demokrat oder Republikaner – lagen die Forscher zu 82 Prozent richtig. Statistisch ermittelten die Forscher: Wenn beispielsweise jemand seine Sympathie für das Fachmagazin „Science“ ausdrückt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es sich um eine Person mit hohem Bildungsgrad handelt. Genauso gut ließ sich diese Nutzergruppe aus unerfindlichen Gründen aber auch an einem Klick auf eine Seite identifizieren, die sich mit „Curly Fries“ – einer gekrümmten Pommes frites-Variante – beschäftigte. Ein Daumen hoch für die Motorradmarke „Harley Davidson“ deutet dagegen eher auf eine niedrige Bildung hin, so die Statistik. Wer bei der Hip-Hop-Gruppe vom „Wu-Tang Clan“ auf „Like“ klickt, ist wahrscheinlich heterosexuell, ergab die Untersuchung.

„Angesichts der zunehmenden digitalen Spuren, die wir im Netz hinterlassen, wird es immer schwieriger zu kontrollieren, welche Merkmale wir preisgeben“, stellen die Wissenschaftler fest. In seinem Buch „Das Ende des Zufalls. Wie Big Data uns und unser Leben vorhersagbar macht“ erklärt Rudi Klausnitzer: „Bevor wir geboren werden, hinterlassen wir schon Datenspuren in Form von Ultraschallbildern, Herztonmessungen und vielen anderen Untersuchungen.“ Und danach gehe es erst richtig los. Es gebe 2,7 Milliarden „Likes“ pro Tag auf Facebook.

Alleswissermaschine Handy

Schon heute ist es dank Algorithmen möglich, die Konversation zwischen einem 35-jährigen Mann und einem 13-jährigen Mädchen über Facebook herauszufiltern. In einem konkreten Fall wollte sich der Mann mit dem Mädchen treffen, doch zum Rendezvous kam statt des Mädchens die Polizei. Es gibt bereits Polizeidienststellen, die über digitale Karten verfügen, die zeigen, wo in den nächsten 24 Stunden voraussichtlich Verbrechen geschehen, erklärt Klausnitzer. Schwerverbrechen können in Memphis im US-Bundesstaat Tennessee zu 70 Prozent aufgeklärt werden, früher waren es nur 16 Prozent. Auch politische Unruhen könnten vorhergesagt werden. „Das neue digitale Mantra lautet: Dem Zufall keine Chance geben!“

Bei Klausnitzers Blick in die Zukunft wird klar, das die schöne neue Welt der Digitalisierung auch schnell zum Horrorszenario werden kann. Über die Gesundheit des Bürgers wacht dann vielleicht ein drahtloses elektronisches System im Haus. Es vermisst den Körper, die Größe der Iris, den Stuhlgang, und auch das Verhalten, und damit den psychischen Zustand. Vielleicht steht demnächst nicht nur der Arzt und der Psychiater im rechten Augenblick vor der Tür, sondern auch die Polizei, weil sie drahtlos den Hinweis bekommen hat, dass jemand langsam verrückt spielt. Wenn Krankenversicherungen oder Kreditbanken voraussehen oder ahnen können, wie krank oder wie kreditwürdig eine Person ist, können die Institutionen viel Geld sparen – aber die betroffenen Individuen haben ein großes Problem. Schon heute monieren Kritiker: Wenn unbescholtene Menschen das Gefühl haben, dass ihr Verhalten vorausberechnet wird, dann werden sie sich vielleicht anders benehmen, als wenn sie unbeobachtet wären – sie wären also nicht mehr frei in ihrer Entscheidung. Der Überwachungsstaat ist auf der einen Seite ein Traum vom sicheren Leben; auf der anderen Seite der Alptraum für freiheitsliebende Menschen.

Klausnitzer fordert: „Wir brauchen ein breiteres Verständnis und neue gesellschaftliche Regeln im Umgang mit den Chancen und Gefahren der Big-Data-Revolution. Sonst würfelt nicht mehr Gott, sondern nur mehr eine Handvoll Datenkonzerne wie Google, Amazon, eBay und Facebook.“

Rudi Klausnitzer: „Das Ende des Zufalls. Wie Big Data uns und unser Leben vorhersagbar macht“,
Ecowin Verlag,
EUR 21,90
ISBN: 978-3-7110-0040-8

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