Das „Nie wieder“ verliert an Kraft

Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Doch die Erinnerung an das Leid stirbt mit den Menschen, die es am eigenen Leib erfahren haben. Umso mehr heißt es: Wachsam bleiben – auch in Corona-Zeiten. Ein Kommentar von Nicolai Franz
Von Nicolai Franz
Feldmarschall Bernard Montgomery unterschreibt die Kapitulation der Wehrmacht in Nordwest-Europa in der Lüneburger Heide

Am Freitag jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre“, heißt es in Psalm 90. Ein ganzes Menschenleben trennt unsere Zeit also von den Schrecken des globalen Flächenbrandes, der gleich mehrere Generationen der Weltbevölkerung entscheidend prägte. Viele Jahrzehnte erzählten Zeitzeugen von der Hitler-Herrschaft, von gefallenen Kameraden, die im Schützengraben zerfetzt wurden, vom Völkermord an den Juden. Die Erfahrungen von Schuld und Leid im „Dritten Reich“ haben die „DNA“ der Bundesrepublik geprägt wie kein anderes historisches Ereignis.

Dass diese Prägung mehr als eine Metapher ist, haben Forscher erst vor wenigen Jahren festgestellt. Tatsächlich geben Holocaust-Überlebende ihre traumatische Erfahrung „epigenetisch“ an ihre Kinder weiter, wie Wissenschaftler unter anderem von der Max-Planck-Gesellschaft herausgefunden haben. Durch Traumata der Eltern werden demnach bei den Nachkommen noch in der Schwangerschaft genetische Schalter umgelegt, die die Kinder später anfälliger für Stresserkrankungen machen. Der Horror des Zweiten Weltkriegs steckte vielen Juden wörtlich in den Gliedern.

Doch die Erinnerungen verdunsten mit jedem Jahr, mit dem wir uns von 1945 entfernen und Zeitzeugen weniger werden. Einer von ihnen war der 1935 geborene und kürzlich verstorbene CDU-Politiker Norbert Blüm. „Wir haben nicht gelernt, welches Unglück der Nationalismus über die Welt gebracht hat“, sagte er 2019 in einer Talkshow angesichts des grassierenden Nationalismus.

Schon 1555 gab es eine „Nie-wieder“-Stimmung

Auch die Bundeskanzlerin sorgt sich seit geraumer Zeit um eine Welt, deren Führungsfiguren sich zunehmend um den eigenen Vorteil statt um das Gemeinwohl kümmern. Wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel vergangenes Jahr berichtete, ließ sich Angela Merkel mehrfach vom Top-Politologen Herfried Münkler beraten, der in einer Art Privatissimum ihr historisches Bewusstsein schärfte. In der Endphase ihrer Kanzlerschaft unternimmt die Kanzlerin in Reden immer wieder historische Ausflüge, mit denen sie die Gegenwart deutet.

In der Unionsfraktion zog sie laut Spiegel bereits Verbindungen in die Religionskriege nach der Reformation, die erst mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 endeten. Auch damals gab es eine „Nie wieder“-Stimmung. „Aber dann war die Generation, die das ganze Elend vor dem Religionsfrieden erlebt hatte, gestorben“, zitiert der Spiegel die Bundeskanzlerin. „Sie war weg. Und es kam eine neue Generation, die sagte, wir wollen nicht so viele Kompromisse machen. Das ist uns alles zu schwierig.“ Die Folge war der Dreißigjährige (!) Krieg.

Demnach droht immer dann neues Blutvergießen, wenn die Erinnerungen mit den Menschen sterben, wenn das Leid nicht mehr schmerzhaft präsent, sondern nur noch als Fakt in Geschichtsbüchern nachzulesen ist. Auch die Corona-Pandemie kann eine historische Zäsur markieren. Hoffentlich eine, aus der die Welt erneut gelernt haben wird, dass nicht der Egoismus zum Heil führt, sondern Zusammenarbeit und – ja – Nächstenliebe.

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