„Das Marketing-Konzept der Kirchen stimmt nicht“

Wer christliche Werte vertritt, schlägt nicht so schnell zu. Das hat der Kriminologe Dieter Hermann von der Universität Heidelberg herausgefunden. Im pro-Interview erklärt er, wie gerade die Kirchen sich für eine gewaltlose Gesellschaft einsetzen können.
Von PRO
Dieter Hermann erforscht, wie Werte entstehen und wie sie sich auf die Gewaltbereitschaft eines Menschen auswirken

pro: Wie würden Sie Ihre eigene Religiosität beschreiben?

Dieter Hermann: Wenn dieser Begriff nicht missverständlich wäre, würde ich sagen, sie ist eher fundamentalistisch in dem Sinne, dass für mich die Bibel die Grundlage des Glaubens ist.

Sie erforschen, wie Menschen Werte entwickeln und wie diese Werte mit Gewaltbereitschaft zusammenhängen. Sind Sie da als Christ nicht befangen?

In unserer Forschungsgruppe haben wir überzeugte Atheisten, Konfessionslose, Evangelische, Katholische, da ist alles dabei. Das ist auch ein Korrektiv. Ich selbst lege einen sehr strengen Maßstab an, bevor ich irgendwelche Ergebnisse veröffentliche, um nicht als befangen zu gelten, weil ich Christ bin.

Sie haben herausgefunden, dass religiöse Werte die Gewaltbereitschaft reduzieren können. Wie kommt das?

Religiöse Werte umfassen ein riesiges Spektrum. Dazu gehört Hilfsbereitschaft – im christlichen Kontext wäre das dann eher der Begriff Nächstenliebe; zudem gehört eine ökologische Orientierung dazu – im christlichen Sprachgebrauch: Bewahrung der Schöpfung; außerdem Toleranz und Leistungsbereitschaft. Religiöse Werte gehören zu den abstraktesten Werten, die es gibt, denn sie beziehen den transzendenten Bereich mit ein. Sie haben einen Einfluss darauf, ob jemand sein Leben an sozialen Normen orientiert, ob er es beispielsweise akzeptiert, dass man nicht schwarzfährt oder nicht stiehlt. Werte haben einen Einfluss auf Normen, und diese beeinflussen das Handeln. Meine Studien haben gezeigt, dass Werte ein außerordentlich hohes Potenzial haben, kriminelles Handeln zu erklären.

Sie kommen in Ihrer Studie auch zu dem Ergebnis, dass Menschen mit modernen materialistischen Werten eher zu Kriminalität bereit sind. Was bedeutet das?

Materialismus ist das Bestreben, möglichst schnell reich zu werden, Wohlstand zu erlangen. Wird dies kombiniert mit Hedonismus – möglichst intensives Vergnügen – und mit subkulturellen Werten, bei denen es zum Beispiel darum geht, clever und gerissen zu sein und das Risiko zu suchen, dann spreche ich von „modernen materialistischen Werten“. Menschen mit solchen Werten sind tendenziell Egoisten. Ihr Lustgewinn und ihr materieller Gewinn stehen im Vordergrund und der Andere ist eher sekundär. Er wird eher als ein Mittel gesehen, um ein Ziel zu erreichen.

Kritiker: „Werte ja, aber bitte ohne Religion“

Diese Erkenntnis erscheint gar nicht so überraschend. Was ist das Besondere daran?

Das Wertekonzept ist zwar schon alt, geriet aber in Vergessenheit. Bis vor Kurzem ging man davon aus, dass insbesondere die Umwelt das Handeln des Menschen beeinflusst. Die Frage war: Führen Mängelzustände, niedrige Bildung oder geringes Einkommen dazu, dass eine Person kriminell wird? Oder führen Defizite in der Persönlichkeit oder biologische Merkmale zu Kriminalität? Da war die Erkenntnis, dass Werte, also innere Faktoren, Kriminalität beeinflussen, neu und gegen den Zeitgeist.

Welche Reaktionen haben Sie auf diese „Forschung gegen den Zeitgeist“ bekommen?

Die Reaktionen waren ganz unterschiedlich. Das reichte von deutlicher Zustimmung bis zu massiver Ablehnung, die sich auch in Polemik äußerte. In Blogs und Diskussionsforen ging das bis zur persönlichen Beleidigung. Von Wissenschaftskollegen ging die Kritik, falls welche geäußert wurde, eher in die Richtung: Der Werteansatz ist gut, aber man könnte ihn doch vom Christentum loslösen. Also man versucht, den Ansatz auf eine neutrale Schiene zu bringen.

Kann es nicht auch umgekehrt sein, dass friedliebende Menschen sowieso etwas religiöser sind?

Wenn wir uns anschauen, in welcher Reihenfolge Werte und Gewaltbereitschaft erworben werden, können wir feststellen, dass zuerst Werte vermittelt werden und daraus dann konkrete Handlungen folgen. Klar, gewaltorientierte Eltern haben auch gewaltorientierte Kinder. Aber das liegt nicht daran, dass sie das so vermitteln, sondern daran, dass hinter der Gewalt<discretionary-hyphen>orientierung der Eltern auch Werte stehen. Diese werden an die Kinder weitergegeben und auf dieser Grundlage entwickeln sie dann ihre Gewaltbereitschaft.

Gottesbild beeinflusst Werte

Macht es einen Unterschied, welcher Religion man angehört?

Das vermute ich schon, weil sich ja die Werte von Religionen durchaus unterscheiden. Das Christentum beispielsweise hat vermutlich andere Wertepräferenzen als der Islam, wobei es Überschneidungen gibt. Im Islam steht nach meinem laienhaften Verständnis eher die Unterwerfung unter Allah im Mittelpunkt und im Christentum Eigenverantwortung und Nächstenliebe. Dies dürfte sich vermutlich auch auf das Handeln auswirken. Untersucht haben wir jedoch nur die christliche Perspektive.

Sie sagen, die Familie habe den größten Einfluss auf die Wertevermittlung von Kindern. Wie schätzen Sie die Macht der Medien ein?

Es gibt relativ viele Untersuchungen zum Einfluss von Medienkonsum auf Verhalten, Aggressivität oder auch Kriminalitätsfurcht. Da findet man relativ starke Zusammenhänge. Ob dieser Vermittlungsprozess über Werte läuft oder ob einfach Rollen und Handlungsmuster übernommen werden, ist völlig unklar. Zudem findet man auch Hinweise, dass es sich nicht um eine schlichte Ursache-Wirkungs-Beziehung handelt, die postuliert, dass der Konsum von medialer Gewalt zur Gewalt<discretionary-hyphen>handlung führt. Es gibt auch die andere Richtung, dass gewaltbereite Menschen in erster Linie mediale Gewalt präferieren.

Wie beeinflusst das Gottesbild eines Menschen seine Wertvorstellungen?

Wir vermuten, dass bei jemandem, der an einen liebenden Gott glaubt, Werte wie Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft im Vordergrund stehen. Wenn jemand an den strafenden Gott glaubt, dann ist der Gerechtigkeitsgedanke wichtiger.

Können religiöse Werte Gewalt verhindern?

Das ist außerordentlich schwierig und nur langfristig möglich, denn Werte sind stabile Eigenschaften von Personen. Vermutlich könnte eine weitere Verbreitung gewaltreduzierender Werte erreicht werden, wenn wichtige Institutionen unserer Gesellschaft zu solchen Werten stehen und sie als richtig erklären. Wenn diese Institutionen vertrauenswürdig sind, dann kann das helfen, dass in unserer Gesellschaft ganz allmählich ein Umdenken geschieht.

Chance für Kirchen

Wie kann es in einem weltanschaulich neutralen Staat funktionieren, so ein Umdenken anzuregen, um mehr christliche Werte hervorzubringen?

„Weltanschaulich neutraler Staat“ heißt ja nur, dass der Staat nicht die religiösen Präferenzen seiner Bürgerinnen und Bürger verordnen darf. Aber Kirchen und zivilgesellschaftliche Gruppen haben in einem weltanschaulich neutralen Staat erhebliche Freiräume. Sie können natürlich für ihre Werte einstehen. In einem säkularen Staat hat das ein viel größeres Gewicht als in religiösen Staaten. Daher ist diese pluralistische Gesellschaft auch eine Chance. Im Grunde ist das eine Aufforderung an zivil<discretionary-hyphen>gesellschaftliche Gruppen, an Kirchen, ihre Werteprofile zu schärfen und sie auch nach außen hin zu zeigen.

Was können die Kirchen tun? Wie können Christen für ihre Werte einstehen?

Am besten sieht man Werte an Handlungen – Hilfsbereitschaft, Gerechtigkeit, Fürsorge. Wenn Handlungen praktiziert werden, die in diese Kategorie fallen, dann ist das ein Indikator für das Werteprofil einer Institution.

Findet das Ihrer Meinung nach statt?

Das findet schon statt, aber irgendwie funktioniert das Marketing-Konzept nicht richtig, also es wird nicht nach außen getragen, es bleibt zu sehr im Verborgenen.

Vielen Dank für das Gespräch.

https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/religionssoziolgen-die-religioese-dimension-der-kirche-ist-fast-verloren/
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/alles-was-emrechtem-ist/
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