Das konkurrenzfähige Kind

Sport, zwei Musikinstrumente, drei Fremdsprachen – Kinder haben neben der Schule oft ein straffes Programm. Schließlich sollen sie bestmöglich auf das Leben vorbereitet werden. Wissenschaftler raten jedoch bei der Erziehung zu Gelassenheit und mahnen, dass Eltern ihre Kinder nicht zum eigenen Erfolgsprojekt machen sollten.
Von PRO
Setzen die Eltern der heutigen Generation ihre Kinder zu sehr unter Druck, oder wollen sie einfach nur eine gute Frühförderung?
Dienstags und freitags spielt Felix Handball. Zweimal in der Woche hat er Leichtathletiktraining, denn er kann sehr schnell rennen. Weil seine Mutter möchte, dass er auch ein Instrument lernt, ist ein Nachmittag in der Woche für den Instrumentalunterricht blockiert. Da wird es schwierig, einen gemeinsamen Termin mit dem Zehnjährigen zu finden, um sich einfach zum Spielen zu verabreden. Er selbst empfindet das nicht als schlimm oder belastend. Im Verein treffe er ja auf seine Freunde, sagt Felix. Das Beispiel weist auf einen Trend hin, der auch wissenschaftlich mehr in den Fokus rückt. Die Entwicklung der Kinder wird zum „Wettrüsten und zur Leistungsschau“, meint Klaus Werle, Reporter beim manager magazin und selbst Vater von zwei Kindern im Alter von zwei und fünf Jahren. Werle hat das Buch „Die Perfektionierer: Warum der Optimierungswahn uns schadet – und wer wirklich davon profitiert“ geschrieben. Aus seiner Sicht verschärft die niedrige Geburtenrate die Sorge um die Kinder, da sich die elterliche Fürsorge auf weniger Nachkommen konzentriert. Schon im Kindergarten werden dabei die ersten Sprossen der Karriereleiter erklommen. Dafür sorgen auch die aus dem Boden sprießenden privat-gewerblichen Kindertagesstätten, die sich mit den entsprechenden Angeboten um den richtigen Start der Kinder ins Leben kümmern. Werle kritisiert, dass Kinder oft viele Dinge erfüllen müssen, die von außen an sie herangetragen werden. Dahinter stehe der Gedanke, dass der Nachwuchs von Anfang an bestmögliche Entwicklungschancen haben soll. „Durch die Globalisierung vergleichen wir uns nicht mehr regional, sondern mit Eltern aus China oder den USA.“ Eltern sähen die Kinder häufig als „Projekt“, das sie maßgeblich unterstützen. Eventuell könnte daraus eine Führungskraft von morgen werden. Davon profitiert eine ganze Industrie privater Bildungsanbieter und Karriere-Coaches. Werle mahnt zur Gelassenheit: „Es muss eine Einsicht in das eigene Wollen und Können des Kindes geben. Die Eltern tun gut daran, zu lernen, wo die wahren Stärken und Schwächen des Kindes liegen“, meint er. Kinder sollten zwar möglichst viel ausprobieren, aber sich ab einem bestimmten Alter auch festlegen, Abstriche im Terminkalender machen und den Mut haben, Dinge sein zu lassen. Das hat nichts mit Faulheit zu tun, sondern mit Prioritäten. Eltern sollten überlegen, wo sich ihre Kinder engagieren können, ohne dass diese sich dabei verzetteln. „Jeder muss für sich wissen, ob er das Leben als gnadenlosen Konkurrenzkampf betrachtet oder eine etwas freudigere Idee davon hat.“ Wenn alle Eltern den gleichen Maßstäben folgten, dann wären alle Kinder perfekt, aber eben nicht einzigartig, warnt Werle. Er prognostiziert, dass auf der nächsten Stufe der Kinder-Optimierung die Digitalisierung und die interkulturelle Kompetenz der jungen Menschen steht.

Kinder brauchen Zeit

Der Düsseldorfer Erziehungswissenschaftler Heiner Barz bringt es auf den Punkt: „Woran es uns mangelt, das wird wertvoller“, sagt er gegenüber pro. Wenn eine Gesellschaft wenige Kinder hat, will sie diese wenigstens optimal für ihre eigenen Ansprüche vorbereiten, die sie später an sie stellen wird. „Wir leben in einer Zeit, in der keiner mehr Zeit hat“, beobachtet Barz. „Effizienz, Optimierung und Controlling greifen immer mehr um sich.“ Was sich im Wirtschaftsleben als sinnvoll erweise, sei pädagogisch und in der individuellen Lebensgestaltung jedoch nicht automatisch wünschenswert. Er sieht die Pädagogik in der Pflicht, dem „immer höher, schneller, weiter“ zu begegnen. „Wir müssen den Kindern Zeit lassen, zu wachsen und selbstbestimmte Erfahrungen zu machen. Dazu gehört frei gestaltete Zeit, in der sie auch Langeweile erleben und daraus dann wieder neue Ideen entwickeln.“ Stress sei für die Kinder kein neues Phänomen, den hätten sie schon immer erfahren. Jetzt habe er eine andere Qualität. „Kinder sind permanent eingespannt und von ihnen werden in allen Bereichen Höchstleistungen erwartet“, findet Barz. Früher hätten Kinder unter autoritären Hausmeistern, Lehrern und Bademeistern gelitten. An deren Stelle seien heute vermeintlich anonyme Sachzwänge getreten, denen die Kinder ausgesetzt sind. Er sieht darin aber nicht nur eine Verfallsgeschichte. Es gebe auch einen Zugewinn an Lebensqualität. Zu Rohrstock, Backpfeife und Kopfnuss wolle heute keiner zurück. Der zweifache Vater betont, dass er selbst nicht frei von diesen Entwicklungen ist. Es sei immer ein Spagat, den Kindern die passende Förderung zukommen zu lassen, ohne sie zu überfordern. Dennoch rät auch er zu mehr Lockerheit, etwa wenn sich bei Eltern ein Schuldgefühl breitmache, ihrem Kind vermeintliche Chancen vorzuenthalten. Dies dürfe nicht dazu führen, jeden Nachmittag des Kindes mit Terminen „zuzupflastern“. Irgendwann brauche es auch Zeit, sich auszuruhen und zu spielen – ohne ständige Beanspruchung. „Kinder müssen nicht schon im Kindergarten alle Dinge beherrschen. Sie sollen sich Zeit nehmen und lassen dürfen.“ Welchen Vorsprung ein Englischkurs vor der ersten Klasse tatsächlich ausmacht, sei noch gar nicht erforscht. Kritisch sieht er es, wenn sofort neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen gefolgt wird, die vermeintlich neue und positive Trends kindlicher Förderung aufzeigen. Er warnt davor, dem Machbarkeitswahn zu erliegen. „Die Zukunft und unser komplettes Schicksal haben wir nicht zu 100 Prozent in der Hand.“

Lass das Kind machen

Den Blick auf die nächste Generation verbindet er mit der Hoffnung, „dass der Nachwuchs nicht komplett aus dem Kreißsaal wegorganisiert wird“. Der gerade diskutierte Vorschlag von Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) zu 24-Stunden-Krippen sei ein weiteres Indiz dafür, dass man Angst haben müsse, dass zwei voll berufstätige Eltern bald gar keine Zeit mehr für ihren eigenen Nachwuchs hätten. „Ich hoffe, die Familien entdecken die gemeinsame Zeit wieder als etwas sehr Wertvolles für ihr eigenes Leben.“ Im angelsächsischen Raum gibt es mittlerweile eine Gegenbewegung zu den alles überwachenden Helikopter-Eltern. „Leitfaden für faule Eltern“ heißt der Bestseller von Tom Hodgkinson, der eine Pädagogik des Wachsenlassens propagiert. Konkrete Tipps gibt auch Ashley Traxler in einem Beitrag auf dem Blog „A fine parent“: „Ignoriere dein Kind“, ist die erste Regel, die sie aufstellt. Wenn Kinder frei und selbstständig spielen könnten und nicht dem Plan der Eltern folgen müssten, würden sie Fähigkeiten erwerben, die über reines Wissen hinausgehen: Probleme lösen, kritisch denken, Dinge kreativ erkunden. „Als Gegenthese zur Überbehütung oder dem ‚Optimierungswahn‘ mag dieser Slogan seine Berechtigung haben; für sich genommen ist er aber falsch und eher gefährlich als nützlich. Gelassenheit hat nicht viel mit Ignorieren zu tun und gar nichts mit Vernachlässigung oder mangelnder Zuwendung, was beides aus dem Ignorieren erwachsen kann“, schränkt der Greifswalder Entwicklungspsychologe Horst Krist ein. Er betont, dass die Förderung individueller Talente nicht verkehrt sei. Dagegen stünden allerdings auch Fälle von Burnout bei Kindern und Jugendlichen. „Die Kinder sind deswegen oft gestresst, weil Eltern ihre eigenen Lebensvorstellungen nicht verwirklichen konnten und jetzt hohe Ansprüche an den eigenen Nachwuchs stellen.“ Wenn Tennis-Wunderkinder mit vier Jahren unter Androhung von Prügeln auf den Platz gejagt würden, sei das Maß überschritten.

Nicht-perfekter Lebenslauf gesucht

Er wünscht sich, dass Eltern den Kindern viele Angebote in der Freizeitgestaltung machen. Das Kind sage und zeige dann schon sehr genau, was seinen Vorstellungen entspreche. Das Bild der Frühförderung habe sich geändert: Früher sei es darum gegangen, Rückstände in der Entwicklung aufzuholen. Heute gehe es darum, Potenziale voll auszuschöpfen. Dabei blieben Sachen auf der Strecke, die den Menschen ausmachten. Er selbst hat auch aus seiner Arbeit als Psychologe eine einfache Empfehlung: „Wir müssen unseren Eltern Gelassenheit vermitteln und den Kindern die Gewissheit, dass sie auch ohne Leis-tung geliebt werden.“ In einem Punkt gibt sein Düsseldorfer Kollege Heiner Barz schon wieder Entwarnung: Mittlerweile suchten die Personalabteilungen nach Bewerbern ohne perfekten Lebenslauf. Es gehe ihnen um Menschen, die etwas erlebt und eine eigenständige Persönlichkeiten entwickelt haben. Ein prominentes Beispiel für Typen ohne ausgefeilte Vita nennt Klaus Werle in seinem Buch: ein dickliches, stilles Kind, das häufig nichts tat. Daraus wurde eines der größten Genies der Zeit: Albert Einstein. (pro)

Dieser Beitrag ist der aktuellen Ausgabe 4/2015 des Christlichen Medienmagazins pro entnommen. Bestellen Sie pro kostenlos und unverbindlich unter Telefon 06441 915 151 oder hier online.

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