„Das ist richtiger Hass“

Am Mittwoch stimmen die Abgeordneten des Bundestages über eine Neuregelung der Beschneidung in Deutschland ab. Kerstin Griese ist religionspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Christin und engagierte Kämpferin gegen ein Beschneidungsverbot. Sie wundert sich vor allem über den missionarischen Eifer atheistischer Verbände in der Debatte.

Von PRO

pro: Frau Griese, was bedeutet für Sie das Wort Kindeswohl?

Kerstin Griese: Es ist für mich ein hohes Gut. Ich versuche, meine politischen Entscheidungen daran auszurichten – das gilt auch beim kommenden Beschneidungsgesetz und der Debatte darum. Der aktuelle Gesetzesentwurf zur Beschneidung erlaubt selbige unter der Vorraussetzung, dass das Kindeswohl nicht gefährdet ist.

Der Jurist Reinhard Merkel nennt eine Beschneidung "qualvoll" und warnt vor "katastrophalen" Konsequenzen. Allein in den USA gebe es jährlich 117 Todesfälle durch den Eingriff. Kann man da noch von Kindeswohl sprechen?

In dieser Debatte wird viel Falsches erzählt. Das "American Jewish Committee" hat sich Studien wie die, die Herr Merkel zitiert, angesehen und herausgefunden, dass einige sehr obskur sind und andere gar nicht stimmen. Es werden angebliche Zahlen aus den USA auf Deutschland übertragen, tatsächlich gibt es hierzulande aber keinen einzigen Todesfall. Wir haben eine Komplikationsrate von unter einem Prozent. Die Zahlen, die von Professor Merkel verbreitet werden, sind also völlig unrealistisch. Hervorgebracht werden sie von jenen, die die Beschneidung von Jungen komplett verbieten wollen und die Religionsfreiheit damit nicht anerkennen. Zum Kindeswohl gehört im Übrigen auch, dass das Kind in der Religion seiner Eltern aufwachsen darf, wie die UN-Kinderrechtskonvention in Artikel 14 sagt.

Die Giordano-Bruno-Stiftung wirbt gemeinsam mit anderen, vor allem atheistisch ausgerichteten Verbänden mit dem Slogan "Mein Körper gehört mir" für ein Verbot von Beschneidungen an Kindern. Ist die Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht für Kinder für Sie nicht nachvollziehbar?

Natürlich ist es nachvollziehbar, ähnliche Forderungen haben wir auch in der Frauendebatte. Aber bei den atheistischen Organisationen vermischt sich ja ein nahezu missionarischer Eifer gegen Religion mit der aktuellen Debatte um jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland. Das macht mir auch deshalb so viel Angst, weil sich diese atheistische oder laizistische Haltung nicht darauf beschränkt, Religionsfreiheit zu fordern: Sie will Dritten auch das Recht auf Religion absprechen. Wir leben in keinem laizistischen Staat, und das ist auch gut so. Folgt man der Logik unseres Grundgesetzes, garantiert der Staat sowohl das Recht, Religion ausüben zu können, als auch die Trennung von Staat und Kirche.

Der jüdische Arzt Leo Latasch beschwerte sich jüngst vor dem Ethikrat über eine provokativ geführte Debatte zum Thema Beschneidung. In der Tat wurde sein Vortrag immer wieder von empörten Rufen aus dem Zuschauerraum unterbrochen. Fehlt es den Gegnern der Beschneidung an Respekt vor den Traditionen bestimmter Religionen?

Ich würde das noch härter formulieren: Was ich in den letzten Wochen erlebt habe, ist richtiger Hass gegen Juden und Muslime und auch Verachtung von religiöser Tradition. Wir wissen seit dem Antisemitismusbericht, dass rund 20 Prozent der Menschen in Deutschland latent antisemitische Positionen vertreten. Seit einigen Monaten sind die nicht mehr latent, sondern öffentlich sehr stark wahrnehmbar. Viele Juden sind schlicht verzweifelt. Es gehört zu unserer historischen Verantwortung, jüdisches Leben hierzulande zu ermöglichen. Genauso wie der Islam zu Deutschland gehört, weil Muslime hier leben, gehört das Judentum zu Deutschland, weil Juden hier leben – sogar schon viele tausend Jahre länger. Ich war erschüttert, als mich im Zuge der Beschneidungsdebatte E-Mails erreichten mit dem Inhalt: "Dann sollen sie doch alle gehen."

Das heißt im Rückschluss: Wir erlauben die Beschneidung, weil wir den Juden in der Vergangenheit Unrecht getan haben?

Nein, diese Verkürzung wäre perfide. Aber wir haben eine geschichtliche Verantwortung. Wir müssen alles dafür tun, dass hier niemals wieder eine Gruppe verfolgt und ausgegrenzt wird. Auch Muslime leben hier und auch sie müssen dies mit ihrer Religion tun dürfen.

In den vergangenen Jahren haben Kirchen und andere Religionsgemeinschaften verstärkt Gegenwind seitens atheistischer Verbände bekommen. Ich erinnere nur an den Atheistenbus, der 2009 durch Deutschland fuhr. Es folgten Plakatkampagnen gegen den Glauben. Sind solche Aktionen für Sie als Christin störend oder gar beleidigend?

Ziel der Aktionen ist Provokation, aber ich sehe sie nicht als Beleidigung. Sie sind Zeichen der Meinungsfreiheit. Allerdings schwingt in vielen Äußerungen und Aktionen eine generelle Intoleranz gegen Religionen mit, die die Kirchen ebenso betrifft. Gerade im Streit um Beschneidung sollten die Kirchen an der Seite der Juden und Muslime stehen.

In einem Aufsatz, den Sie gemeinsam mit Harald Schrapers veröffentlicht haben, erwähnen Sie eine Parteikollegin, die sich nicht nur vehement gegen die Beschneidung aussprach, sondern Ihnen gegenüber sogar zugab, als nächstes am liebsten die Taufe verbieten zu wollen. Ist der Beschneidungsstreit erst der Anfang?

Diese Situation trug sich im Rahmen einer sehr erhitzten Debatte im Sommer zu. Damals hatte ich die Sorge tatsächlich. Mittlerweile hat sich das gelegt, auch, weil der Ethikrat uns Abgeordneten gute Impulse gegeben hat, aus denen letztlich ja der aktuelle Gesetzesentwurf des Kabinetts hervorgegangen ist. Was bleibt, ist ein dringender Appell an die Kirchen. Ihr müsst euch stärker öffentlich erklären. Tut Ihr das nicht, werdet Ihr vielleicht von Vorurteilen überschwemmt.

Frau Griese, vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Anna Lutz

Das komplette Interview mit Kerstin Griese zum Thema Beschneidungsstreit ist in der aktuellen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins pro erschienen. Das Magazin erscheint sechs Mal im Jahr, das Abonnement ist kostenlos. Bestellen Sie pro telefonisch unter Telefon 06441-915 151, über das Formular auf dieser Seite oder per Email an info@kep.de.

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