Das Gespenst der Freiheit

Robert Nef, Präsident des Liberalen Instituts in Zürich, hat die biblische Geschichte vom Goldenen Kalb und die Zehn Gebote im Sinne einer liberalen Wirtschaftsordnung gedeutet. Das ist eine dreiste Zweckentfremdung der biblischen Texte.
Von PRO

In einer Szene im Spielfilm „Das Gespenst der Freiheit“ des spanischen Regisseurs Luis Buñuel herrscht verkehrte Welt: Arrivierte Bürger treffen sich zum gemeinsamen Toilettengang im Wohnzimmer. Versammelt um einen Tisch sitzt jeder auf seiner Kloschüssel und verrichtet sein Geschäft, während man gemeinsam über Gott und die Welt plaudert, als ob es ein Kaffeekränzchen wäre. Kommt bei jemandem eine Notdurft in Form von Hunger auf, zieht er sich zum Essen auf ein stilles Örtchen zurück.
 
Ähnlich absurd wirkt auch ein Beitrag von Robert Nef in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: Der Präsident des in Zürich angesiedelten Liberalen Instituts meint, die biblische Geschichte vom Goldenen Kalb und den Zehn Geboten sei „eigentlich“ eine Absage an jeglichen politischen Kollektivismus und ein Plädoyer für eine liberale Wirtschaftsordnung, das die Freiheit des Individuums sowie dessen Privateigentum anspricht und verteidigt.
 
In dieser Lesart steht die „Abgabe“ sämtlichen Goldschmucks zur Anfertigung des Goldenen Kalbs für die Zwangsabgabe an den Staat, vom dem man sich politische, wirtschaftliche und soziale Verbesserung der Zustände erhofft. Und genau darüber sei Mose dann erzürnt, und nicht etwa wegen des „Materialismus‘“ der Israeliten. Mose macht das Ganze dann rückgängig, indem er den goldenen Götzen pulverisieren lässt und den Goldstaub dem Trinkwasser beimischt. So verhindere er kollektiven Erlösungswahn und einen nochmaligen „Missbrauch“ des Eigentums. Darüber hinaus präsentiere er mit den Zehn Geboten einen Gesellschaftsvertrag, auf den sich freie Individuen freiwillig einließen.
 
Doch geht es in der biblischen Geschichte weder um „Materialismus“, noch um eine liberale Gesellschaftsordnung, sondern um die Gottheit Gottes. Dass der Mensch die Freiheit hat, etwas anderes als Gott zu seinem Gott zu machen, ist ein biblischer Gedanke. Das hat aber nichts mit dem Anliegen der Aufklärung zu tun, als Individuum zu denken, das sich frei macht von seinen vermeintlichen Banden wie Kirche, Tradition, Familie oder Gott. Diese Art von Freiheit geisterte in den Köpfen moderner Aufklärer, nicht aber am Berg Sinai umher. Doch eben das projiziert Nef in den biblischen Text.
 
Außerdem bedenkt Nef nicht, dass die alttestamentlichen Gebote wenig mit einer liberalen Wirtschaftsordnung gemein haben. Oder befürworten neoliberale Denker etwa einen Schuldenschnitt, wie er im Alten Testament gefordert wird? Was ist mit den Geboten für Ruhezeiten? Müssen kirchliche Institutionen dieses Gebot der Vernunft nicht dauernd gegen die Mächte der Wirtschaft verteidigen?
 
Und schließlich: Das Ziel der Gebote im Alten Testament ist nicht wirtschaftliches „Wachstum“, sondern der Friede Gottes. Das zeigt sich etwa darin, dass nicht nur um eine Umverteilung materieller Güter an Benachteiligte geht. Reiche sollen mit Armen an einem Tisch essen, um damit gegenseitige Annahme auszudrücken. Diese Tischgemeinschaft hat Jesus Christus und die christliche Gemeinschaft in der Feier des Abendmahls auf den Punkt gebracht.
 
Vielleicht hat eine Gesellschaft mit verkrusteten Umgangsformen, wie Buñuel sie in seinem Film persifliert hat, genau das aus den Augen verloren: Dass es beim gemeinsamen Essen um die echte Annahme des Gegenübers geht. Doch während Buñuel das Absurde bewusst als Stilmittel eingesetzt hat, scheint es Nef mit seiner dreisten Zweckentfremdung biblischer Texte durchaus ernst gemeint zu haben. (pro)

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