Daran kranken politische Debatten

Politische Debatten sind unterkomplex und getrieben von Feindbildern, sagen Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach und Journalist Korbinian Frenzel. Ricarda Lang (Grüne) und Wolfgang Schmidt (SPD) sehen auch die Medien in der Verantwortung.
Von Anna Lutz

Migration. Staatsverschuldung. Bürgergeld. Drei politische Inhalte, um die in jüngster Zeit hart gerungen wurde. Und bei denen die Debatten reichlich misslungen sind. Das zumindest finden Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach, der Journalist Korbinian Frenzel, die ehemalige Grünen-Chefin Ricarda Land und der ehemalige Chef des Bundeskanzleramts im Kabinett von Olaf Scholz, Wolfgang Schmidt. Am Donnerstag waren sie Gäste bei einem Berliner Talk zum Thema „Defekte Debatten“. Ein gleichnamiges Buch haben Reuschenbach und Frenzel 2024 veröffentlicht.

Keine Lösung im Blick

Frenzel erklärte, die Migrationsdebatte sei nie so geführt worden, dass sie auf eine echte Lösung des Problems ziele. Stattdessen gehe es um „politische Landgewinne“. Reuschenbach stimmte zu: „Wir schaffen es nicht, die Komplexität der Dinge in die Debatten zu überführen.“ Verkürzungen und Vereinfachungen, „die unredlich sind“, seien an der Tagesordnung, ebenso Feindbilddenken im politischen Raum. Die Fronten zwischen den Parteien der politischen Mitte seien derart verhärtet, dass es gar keine Populisten brauche, um Streit zu provozieren. Die AfD-Abgeordneten säßen nur noch da wie mit Popcorn im Kino, sagte die Politikwissenschaftlerin und sprach von einer „nervösen, gestressten, angestrengten politischen Mitte“.

SPD-Politiker Schmidt widersprach: Die Ampelregierung sei nicht an defekten Debatten gescheitert. Wohl aber an der Tatsache, dass drei Parteien mit unterschiedlichen Antworten auf grundlegende Konflikte wie Krieg und Frieden, Staatsverschuldung oder Klima öffentlich hart gerungen hätten und das durch soziale Medien und Onlinemedien immer sichtbar gewesen sei. 

Lang stimmte zu. Sie habe eine gleichzeitige Verächtlichmachung von politischem Streit wie auch von politischem Kompromiss zu Zeiten der Ampel erlebt. „Das halte ich für eine extrem gefährliche Entwicklung, denn beides ist das Schmiermittel der Demokratie.“ Dafür seien auch die Medien verantwortlich. Sie bewerteten politische Abläufe nur noch danach, wer als Gewinner oder Verlierer aus einer Debatte herausgehe, ignorierten aber die Kompromissfindung als solche.

Kritik an Migrationskurs der Union

Auch Frenzel forderte einen tiefgehenden Journalismus, gerade in unübersichtlicheren Zeiten. „Es wäre gut, wenn mehr Hauptstadtjournalisten wirklich auch mal Gesetzesentwürfe läsen“, sagte er. 

Lang kritisierte das Zuspitzen der Medien auf einzelne symbolische Politikvorhaben und nannte als Beispiel die vom Innenministerium angewiesenen Rückweisungen Asylsuchender an den Grenzen. Das werde den populistischen Kräften Aufwind geben, aber an der Migrationsbewegung selbst nichts ändern. 

Schmidt stimmte zu: Es gebe keinen Zauberstab, mit dem man einfach die Migration abstellen könne. „Die Union weiß, dass sie das Bauchgefühl der Mehrheit der Wähler bedient, wenn sie das Thema Migration adressiert.“ Dennoch sei es irritierend, dass Rechtsfragen und juristische Urteile bei den Überlegungen keine Rolle gespielt hätten, sagte er. Das Berliner Verwaltungsgericht hatte jüngst im Eilverfahren drei Personen aus Somalia Recht gegeben, die sich gegen ihre Zurückweisung ohne Dublin-Verfahren gewehrt hatten. Schmidt erklärte, das Migrationsproblem bestehe nicht in den Menschen, sondern in den langsamen Verfahren.

Cancel Culture existiert

Lang übte auch Selbstkritik an ihrer Partei. Es sei ein Fehler gewesen, dass die Grünen „den Kampf um die Meinungshoheit“ beim Thema Migration in der Ampelzeit aufgegeben hätten. Davon habe die Linke profitiert. Alle Politiker der Mitte rief sie auf, weniger auf die AfD zu schielen. Wer immer nur frage, was der AfD politisch helfe und was nicht, der mach die Populisten wirksamer. „Diese Dauerbeschäftigung muss aufhören“, erklärte sie und sagte in Richtung der Union: „Die Konservativen müssen einen Weg finden, ihre eigenen Ideen zu vertreten, ohne den anderen hinterherzurennen.“ 

Progressive politische Kräfte rief sie dazu auf, „sich gewissen Lebenslügen zu stellen“ und nannte als Beispiel die Idee der „Cancel Culture“. „Man macht es sich zu einfach, wenn man sagt, das gibt es nicht“, sagte sie mit Verweis etwa auf die Autorin Juli Zeh, die zeitweise wegen ihrer politischen Haltungen als persona non grata gegolten habe. Diese „Engschließung von Debatten“ etwa beim Ukrainekrieg sei problematisch. 

Doch was macht defekte Debatten wieder heil? Darauf versuchte Reuschenbach eine Antwort zu geben. Es brauche die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und das in der Politik ebenso wie in den Medien oder in der Familie. Jeder sollte versuchen zu „verstehen, wie andere auf die Welt schauen, in der man selbst lebt“.

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