Christen in Nigeria: Verlorenes Vertrauen

Ein Sprecher der radikal-islamischen Sekte Boko Haram ist im Norden Nigerias von der Polizei erschossen worden. Weitere mutmaßliche Mitglieder von Boko Haram seien festgenommen worden, berichtet die Deutsche Presseagentur (dpa). Die Sekte verübt seit vielen Monaten immer wieder schwere Anschläge gegen Christen im muslimisch geprägten Norden des Landes. Sie lehnt jede westliche Lebensweise ab und nennt sich auch "nigerianische Taliban".
Von PRO

In Nigeria lebten Christen und Muslime lange Zeit weitgehend friedlich miteinander. Damit ist es im Norden des bevölkerungsreichsten Landes Afrikas vorbei: Islamisten wollen dort einen Gottesstaat errichten. Mit Gewalt wollen sie die Christen dazu bringen, die Region zu verlassen – oder zum Islam überzutreten. Dieser gefährlichen Entwicklung schenken Politiker und Medien zu wenig Beachtung, sagt Professor Rainer Rothfuß, Humangeograph an der Universität Tübingen.

Am 2. Januar 2012 hat die islamistische Sekte "Boko Haram" (Westliche Bildung ist Sünde) alle Christen aufgefordert, innerhalb von drei Tagen den Norden Nigerias zu verlassen, und wollen dem mit brutalen Methoden nachhelfen: Islamisten brennen Kirchen nieder. Geschäfte im Besitz von Christen werden zerstört oder enteignet. Jeden Monat gibt es Anschläge auf Kirchen oder öffentliche Gebäude, bei denen in jüngster Zeit Hunderte von Christen ums Leben kamen. Terror und Gewalt haben 2011 so stark zugenommen, dass das westafrikanische Land auf dem Weltverfolgungsindex der Hilfsorganisation "Open Doors" von Platz 23 auf Platz 13 vorrückte. Nach deren Angaben wurden allein 2011 mindestens 300 Menschen aufgrund ihres christlichen Bekenntnisses getötet. Die Dunkelziffer könnte zwischen 1.000 und 1.500 liegen, sagt Markus Rode, Leiter des deutschen Büros von Open Doors im hessischen Kelkheim.

Im Alltag erleben Christen in den nördlichen Staaten Nigerias Benachteiligung, Ausgrenzung und Bedrohung: Kinder von Christen, die öffentliche Schulen besuchen, müssen am islamischen Religionsunterricht teilnehmen, der christliche wird ihnen verwehrt. Freie Stellen in staatlichen Positionen werden nicht an Christen vergeben. "Die Christen dort haben gelernt, vor Gericht, in der Schule, bei der Arbeit oder in der Gesellschaft keine faire Behandlung zu erwarten", erklärt Rode.

"In Nigeria ist das Ringen um politische Macht ganz klar durch religiöse Aspekte bestimmt", sagt der Religionswissenschaftler Asonzeh Ukah. Der Nigerianer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bayreuth. "Religion war in Nigeria schon immer äußerst wichtig." Die iranische Revolution hat weltweit zu einer Radikalisierung des Islam geführt. "Durch sie wurde vielen Muslimen ins Bewusstsein gerufen, dass der Islam nicht nur eine Religion unter vielen ist, sondern mit einem Herrschaftsanspruch verbunden wird", erklärt Rothfuß.

Zugespitzt hat sich die Lage 1999: Damals wurde ein Christ aus dem Süden des Landes erster frei gewählter Präsident. In den Jahrzehnten zuvor hatten Christen keine besondere politische Macht. Als Reaktion auf den vermeintlichen Machtgewinn der Christen entschieden sich einige Gouverneure aus dem Norden, die Scharia auf das Strafgesetzbuch und das Gewohnheitsrecht anzuwenden. Die zwölf nördlichen Bundesstaaten führten damals die islamische Scharia-Gesetzgebung ein.

"Gefährlicher Nährboden für gewaltsame Verfolgung"

Seitdem hat die systematische Diskriminierung im Norden stark zugenommen. "Damit ist nicht nur offene Gewalt gemeint, sondern auch Benachteiligung im Zugang zu höheren Stellen in Verwaltung, Universität und Politik, die Behinderung des Baus von Kirchen, die Verweigerung des Rechts auf christlichen Religionsunterricht", erklärt Rothfuß. Dies alles widerspricht der Verfassung des Landes, die jedem Bürger das Recht auf religiöses Bekenntnis und das Recht, den Glauben öffentlich auszuüben, garantiert. In Kapitel zehn der nigerianischen Verfassung heißt es: "Die Regierung des Bundes oder eines Bundesstaates soll keine Religion als Staatsreligion annehmen."

Die islamistischen Anführer versuchen, dem Land ein muslimisches Gepräge zu geben. Obwohl Nigeria kein mehrheitlich muslimisches Land ist, wurde es unter Diktator Ibrahim Babangida 1986 eigenmächtig zum vollwertigen Mitglied der Organisation islamischer Staaten (OIC) gemacht. "Muslime meinen, es gehöre zur Ausübung ihrer Religionsfreiheit, wenn sie sagen, dass kein ‚Ungläubiger‘ Präsident werden kann", sagt Ukah. Besonders erzürnt ihn, dass Christen in den zwölf Scharia-Staaten ungestraft diskriminiert, angegriffen und gar ermordet werden. Die Staatsgewalt scheint machtlos. Dabei sind Christen keineswegs eine kleine Minderheit im Norden: Aktuell leben etwa 25 Millionen Christen im Norden. "Es ist Teil des Spiels, dass der Norden so dargestellt wird, als sei er ’natürlich muslimisch‘. Das ist er aber nicht. Die Muslime stellen etwa zwei Drittel der Bevölkerung", weiß Rothfuß. Im mehrheitlich christlichen Südwesten leben Christen und muslimische Minderheiten sowie Angehörige traditioneller Religionen überwiegend harmonisch zusammen.

Frauen und Kinder schlafen nachts aus Angst auf dem Feld

Dagegen müssen Christen im Norden Angst um ihr Leben haben: Vor allem in religiös durchmischten Quartieren und in den Dörfern, wo die Ärmsten leben, sind sie der Gewalt ausgesetzt. Seit einigen Jahren überfallen Terrorkämpfer nachts ländliche Siedlungen. 174 christliche Bauernsiedlungen in den Bundesstaaten Plateau, Kaduna und Bauchi wurden bereits von muslimischen Hausa Fulani überfallen. Sie brennen die Hütten nieder und erschießen ganze Familien. Die Gemeinden versuchen sich mit nachbarschaftlichen Wachgruppen zu schützen. Sie schicken Frauen und Kinder selbst in der Regenzeit nachts zum Schlafen ins offene Feld, damit sie nicht während nächtlicher Überfälle in ihrem Haus getötet werden. Schutzmaßnahmen greifen nicht. Die Regierung ist überfordert angesichts der Größe des Landes und der Größe der Problematik. "Diejenigen, die die Christen schützen sollten, verbünden sich mit den militanten islamischen Gruppen, die hinter der Gewalt gegen Christen stehen", empört sich der Nigerianer. "Das geht sogar so weit, dass Teile der Armee und der Polizei nicht mobilisiert werden, wenn Angriffe stattfinden. Sie greifen einfach nicht ein." Der seit 2011 amtierende Präsident Goodluck Jonathan hat in einem Interview mit einem nigerianischen Onlinemagazin unumwunden zugegeben, dass die "Boko Haram" seine Regierung unterwandert habe, einschließlich der Exekutive, Legislative und Judikative sowie der Polizei.

"Letztlich wird kein Präsident die Probleme in einem Land dieser Größe alleine lösen. In meinen Augen ist es aussichtslos ohne Unterstützung der internationalen Gemeinschaft", urteilt Rothfuß. Er weiß, dass die Radikalisierung vor allem von islamischen Erdölstaaten vorangetrieben wird. "Mehrere arabische ‚Hilfsorganisationen‘ investieren massiv in die Ausbildung von Imamen, die nach Saudi-Arabien und in den Iran geholt werden. Dort werden sie radikalisiert und wieder zurückgeschickt."

Viele Christen haben das Vertrauen in die Regierung verloren. Um sich zu schützen, flüchtet ein Teil in den sicheren Süden oder ins Ausland. Vor allem Jüngere greifen vereinzelt selbst zu den Waffen, nach dem Motto: "Wenn der Staat uns nicht schützt, tun wir es selber". Rothfuß weist darauf hin, dass Deutschland 2011 an Nigeria 26 Millionen Euro gezahlt hat – dies entspricht 0,4 Prozent der gesamten deutschen Entwicklungshilfe. Das Thema interreligiöse Konflikte habe dabei keine Rolle gespielt: "In erster Linie ging es um eine Energiepartnerschaft – das kann nicht sein, solange der Frieden nicht gesichert ist", kritisiert der Humangeograph. Nigeria ist als sechstgrößter Ölproduzent innerhalb der OPEC-Staaten für die Industrieländer von großem Interesse. Heute leben 160 Millionen Menschen in Nigeria – im Jahr 2050 werden es nach Schätzungen doppelt so viele sein. "Spätestens dann werden wir bei anhaltenden Konflikten ein Problem bekommen, das auch Europa massiv betreffen wird", prognostiziert Rothfuß. Er sieht nur dann eine Chance auf Veränderung, wenn die Situation in Nigeria ins Bewusstsein von Politikern und der Gesellschaft vorgedrungen ist.

"Die Gefahr wird oft zu spät erkannt"

Er hofft, dass künftig nicht nur massive Gewalt wie Selbstmordattentate in Medien und Politik beachtet wird, sondern "alle Tendenzen und Stufen der Diskriminierung als gefährlicher Nährboden für gewaltsame Verfolgung".

Die Gefahr großer Gewaltausbrüche und systematischer Verfolgung werde oft viel zu spät erkannt, warnt der Wissenschaftler. "Wenn sich eine Bevölkerung daran gewöhnt, dass eine Glaubensgruppe systematisch diskriminiert wird, verschiebt sich die gesamte Wahrnehmung." Bei Anschlägen und Gewaltakten komme dann kein Unrechtsbewusstsein auf. "Das Thema darf nicht länger totgeschwiegen werden", fordert Rothfuß. "Wenn man einmal einer Frau gegenüber gesessen hat, die ihren Mann und alle Kinder bei einem Anschlag verloren hat, vergisst man die Bedrohung in Nigeria nie mehr. Und dann möchte man dafür kämpfen, dass niemand mehr aus Angst nachts auf dem Feld schlafen muss."

Dieser Artikel ist aus dem Christlichen Medienmagazin pro, Ausgabe 4/2012, entnommen. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/915151 oder via E-Mail an info@pro-medienmagazin.de.

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