Calvin postmodern – Ein Reformator im Spiegel der Zeit

Am Freitag wäre der Reformator Johannes Calvin 500 Jahre alt geworden. Seine Lehren werden derweil auf unterschiedlichste Weise fortgeführt. Rockmusik und Punkoutfit können in der Postmoderne ebenso Ausdruck des Calvinismus sein, wie die strenge Einhaltung des Bilderverbots in macnhen Kirchen. Reporter verschiedener Zeitungen und TV-Formate haben sich mit dem Reformator und den heutigen Ausprägungen seiner Lehre beschäftigt.
Von PRO

Fast wie die „Fans einer Indie-Rockband“ muten die Kirchgänger von „Mars Hill“ in Seattle an. Sie stehen Schlange, um in den Gottesdienst zu gelangen, tragen enge Hosen oder kurze Kleider und Turnschuhe. Aus den dunklen Räumen des Kirchgebäudes schalt Punkmusik. Mit E-Gitarre und Schlagzeug spielt die Lobpreis-Band eine Rockversion des Klassikers „Nothing but the blood“. Die Zuschauer stehen vor ihren Stühlen, heben die Hände zum Himmel und haben die Augen geschlossen. „Viele Paare sind darunter. Er modisch unrasiert, sie im Vintage-Kleid. Sie halten Händchen, doch sie hatten noch nie Sex“, beschreibt Journalist Jörg Häntzschel von der „Süddeutschen Zeitung“ seinen Besuch bei den „New Calvinists“, die zu „einer rasant wachsenden fundamentalistischen Bewegung amerikanischer Christen“ gehören.

Modernes Leben – traditionelle Lehre

Sie leben modern, orientieren sich aber an den Werten der Bibel und an der Lehre Calvins. Der Reformator betonte die Heiligkeit Gottes und hob die Wichtigkeit der Bibel als Gottes Wort sowie die Souveränität Jesu hervor. Nicht in der Kirche, sondern in diesen Quellen liege die Autorität Gottes über den Menschen. Der Mensch werde allein durch die Gnade Gottes errettet, nicht durch seine guten Taten, lehrte Calvin. Und er sprach von der Prädestination, die besagt, dass nur jene Menschen errettet werden, die Gott dafür vorherbestimmt hat – der Mensch hat keinen Einfluss auf seine Errettung. Diese Lehre setzt Mark Discroll, Gründer der „Mars Hill Church“ fort. Häntzschel zitiert: „Wer sagt, er sei Christ, und leugnet, dass Jesus ewig ist; dass er ganz Gott und ganz Mensch ist; geboren von einer Jungfrau; am Kreuz gestorben; aufgefahren in den Himmel – der ist ein Häretiker! Zu sagen, Homosexualität ist nicht so schlimm, Sex vor der Ehe ist okay, ist Häresie! Gott richtet, Gott zerstört. Gott toleriert keine Sünde! Es ist erschütternd und tragisch, wenn die Kirche nicht mehr ist, als das Echo einer verdammten Welt.“

Im Gottesdienst geht es um das Thema „Falsche Lehrer“. Discroll nennt sie „Wölfe“: „Sie essen mit dir, sie sind freundlich, jeder mag sie. Und ist es nicht auch verführerisch? Wenn ich in die Kirche dieses oder jenes Pastors gehe, dann kann ich vielleicht meine Frau betrügen und mich trotzdem Christ nennen. – Tu es nicht! Er ist ein Wolf! Er führt dich zur Sünde“, heißt es im Artikel der „Süddeutschen“. Für den Journalisten Häntzschel eine merkwürdig anmutende Lehre: „Seit 20 Jahren verfolgt Europa befremdet, welche Massen den konservativen protestantischen Kirchen in den USA zuströmen. Nichts machte den Boom sichtbarer als die ‚Megachurches‘, die Tausende von Gläubigen fassen können, wahre Wal-Marts der Spiritualität.“ Antiliberal, antiaufklärerisch und tief in amerikanischen Urideologien verwurzelt seien ihre Lehren „gegen Abtreibung, gegen Homoehe, gegen Darwin und gegen staatlichen Einfluss“. Die neuen Kirchen seien Sammelbecken der „Moral Majority“, der Moralischen Mehrheit, wie die Gruppe der politisch aktiven Christen in den USA genannt wird. Sie hätten zwei Mal dafür gesorgt, dass George W. Bush Präsident und sie zur politischen Mehrheit geworden seien.

Politische Nähe zur Kirche, theologisch aber weit entfernt

„So nahe viele ‚New Calvinists‘ den großen protestantischen Kirchen politisch stehen, so weit sind sie theologisch von ihnen entfernt“, schreibt Häntzschel. Discroll prangere einen Geist der Toleranz an, der nach Kompromissen zwischen der Bibel und der heutigen kulturellen Realität suche. „Die ‚Totale Verderbtheit‘ des Menschen, sein völliger moralischer Bankrott, und seine Unfähigkeit, sich Gottes Liebe durch eigenes Engagement zu erwerben, seien die Kernpunkte der Lehre. Doch dagegen rührt sich in den USA auch Protest. Im Internet kursiert eine Fotomontage Discrolls, die ihn als Aufziehpuppe zeigt, die „radikale“ Sätze von sich geben soll. Discroll selbst begründet den Erfolg seiner Radikalität in der „Süddeutschen“ so: „Ich erzähle niemandem, er würde reich, gesund oder lebe ein glückliches Leben. Ihr Leben wird vielleicht noch schlimmer, wenn sie Jesus lieben. Und weil ich die Leute unglücklich mache, weil ich ihnen Dinge sage, die ihnen kein anderer sagen würde, glauben sie: Vielleicht ist er ehrlich.“

Der Autor hingegen fragt sich: „Wie lässt sich die antiaufklärerische Sehnsucht weltanschaulich und praktisch mit einem Leben im Jahr 2009 vereinbaren? Wie kann eine Frau in ihrem Beruf die Früchte der Emanzipation genießen, aber sich gleichzeitig zu Hause ganz ihrem Ehemann unterwerfen, wie es die Calvinisten verlangen? Und hat es nicht etwas Verlogenes oder Schizophrenes, wenn man, wie Michael Taron, der ein bisschen wie ein Heiliger aussieht, während der Woche im Namen des Fortschritts bei Microsoft Software entwickelt und am Sonntag dann die Aufklärung verdammt?“

Eine Antwort auf diese Fragen bekommt Häntzschel bei den „New Calvinists“ nicht. Hier, so beschreibt er, kommen sogar Christen hin, die Barack Obama zum Präsidenten gewählt haben. Das Paar Tim und Lindsey Wilson etwa erklären: „Natürlich finden wir Abtreibung oder Homosexualität schrecklich, aber das heißt ja nicht, dass man sie unbedingt verbieten muss. Man muss sich seine Schlachten aussuchen.“

Kahle Kirchenwände: Auch das ist Calvinismus

Ein Journalist der Tageszeitung „Die Welt“ besucht anlässlich des Calvin-Jubiläums eine Kirche ganz anderer Art. In der französisch-reformierten Gemeinde in Potsdam hat die Postmoderne noch nicht Einzug gehalten. Sie ist eine von 430 reformierten Gemeinden in Deutschland, die sich alle auf Calvin berufen, wie Autor Lucas Wiegelmann schreibt. „Das Symbol für das Blut unseres Erlösers Jesus Christus kostet 1,15 Euro im Tetra Pak“, heißt es in dem Text. Das Abendmahl wird hier mit „Albi-Traubensaft“ aus dem Karton gefeiert. Ansonsten halten sich die Gemeindemitglieder aber streng an die Prinzipien, die den Reformatismus nach Calvin einst prägten. Die Wände sind kahl, denn die Christen sollen sich kein Bild von Gott machen. „Malerei muss draußen bleiben“, schreibt Wiegelmann. Nicht einmal Kreuze seien erlaubt. Das Wort Gottes steht im Mittelpunkt des Gottesdienstes. „Sie sitzen im Halbkreis um die Kanzel herum, nehmen die Verkündigung in die Mitte. Nichts soll vom Wort ablenken“, heißt es in dem Artikel „Was von Calvin bleibt“.

Gerade diese Besonderheiten machten die reformierten Kirchen aus, aber sie dünnten aus, schreibt die „Welt“. Rund zwei Millionen Menschen in Deutschland gehörten zur reformierten Kirche – Tendenz fallend“: „Heute konkurrieren auf dem Markt der Konfessionen nicht nur Katholiken und Lutheraner mit den Reformierten, sondern auch zahlreiche Freikirchen, die sich ebenfalls auf reformatorische Grundlagen gerufen: Methodisten, Baptisten, Pfingstler, Adventisten, sie alle bilden das Spektrum des Protestantismus und bieten eine Alternative zu den großen Konfessionen.“ Die Lehren unterschieden sich oft nur in Nuancen. Deshalb warnt Achim Detmers vom Reformierten Bund: „Es besteht die Gefahr eines Identitätsverlustes“.

Am heutigen 500. Jahrestag der Geburts Johannes Calvins erinnern auch zahlreiche weitere Medien an den Reformator. „Wer Erfolg hat, ist von Gott auserwählt“, zitiert die ZDF-Nachrichtensendung „Heute“ den Kirchenmann und zeigt die Verbindung seiner Lehre zum Kapitalismus auf, die schon der Soziologe Max Weber herstellte. Dieser schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts laut „Heute“: Die reformierten Protestanten hatten eine „spezifische Neigung zum ökonomischen Rationalismus“ und begünstigten so die Entwicklung des Kapitalismus.

„Calvin war ein spröder Charakter mit Ecken und Kanten“, zitiert „Focus-Online“ den Theologie-Professor Matthias Freudenberg und verweist damit auf die private Natur des Reformators. Seine Thesen seien noch heute aktuell, erklärt er weiter. Die Frage, die Calvin beschäftigt habe, nämlich wie man Leben und Glauben vereinbaren könne, beschäftige die Menschen nach wie vor. Die „Basler Zeitung“ erinnert an die Feinde Calvins und schreibt, diese brandmarkten ihn bis in unsere Tage als fanatischen Ideologen, als wütenden „Taliban von Genf“. Stefan Zweig etwa habe den „hageren Mann mit dem spitzen Bart“ sogar in die Nähe des Bösen schlechthin gerückt, Adolf Hitler. „Nie habe Genf so viele Bluturteile, Strafen, Foltern und Exile erlebt wie in den dunklen Tagen der Herrschaft Calvins“, zitiert die Zeitung den Schriftsteller weiter. Seine Lehren seien fanatische Ideologien.

EKD gedenkt des Reformators

Ob fanatisch, postmodern oder traditionell – die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gedenkt in diesen Tagen des Reformators Calvin und der Fortsetzung seiner Lehre in den unterschiedlichsten Ausprägungen. EKD und Reformierter Bund laden am heutigen Freitag ab 13.30 Uhr in der Berliner Friedrichstadtkirche zu einer Festveranstaltung mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier ein. Wie der Evangelische Pressedienst (epd) berichtet, wird er über die europäische Dimension von Calvins Wirken sprechen. Außerdem zu Gast sind der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, Generaldirektor Hans Ottomeyer vom Deutschen Historischen Museum sowie Pfarrer Thomas Wipf aus der Schweiz als Präsident der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa.

Am kommenden Sonntag, den 12. Juli, überträgt die ARD ab 10 Uhr einen Festgottesdienst aus der Friedrichstadtkirche in Berlin. Zum Calvin-Jubiläum wurde zudem eine Sonderbriefmarke im Wert von 70 Cent ausgegeben. Noch bis zum 19. Juli zeigt das Deutsche Historische Museum die Ausstellung „Calvinismus – Die Reformierten in Deutschland und Europa“. (PRO)

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