Menschen haben ein Bedürfnis nach Selbsterkenntnis und Prüfung. Dies stelle für die Kirchen eine neue missionarische Möglichkeit dar,
schreibt "Welt"-Redakteur Matthias Kamann. Er fordert die evangelische
Kirche auf, Menschen die Gelegenheit zu Buße und zum Bekenntnis eigener
Schuld zu geben, statt ein Wohlfühlevangelium zu predigen.
Von PRO
Foto: Marcel Mooij/fotolia
Viele Menschen, die eine Kirche besichtigten, täten dies nicht nur aus kunsthistorischem Interesse, beschreibt Kamann in dem Essay "Ich zweifle, also bin ich" in der Samstagsausgabe der "Welt" seine Beobachtungen. Den meisten Besuchern scheine es wichtig zu sein, einen ernsten Blick auf ihr Leben und das zu richten, was daran wegen äußerer Umstände oder eigenen Versagens schlecht sei. "Weniger tatsächliches Unglück scheint sie zu den Kerzen zu treiben als die Bereitschaft, die unglücklichen Stellen in einem passablen Leben zu suchen. Das Gotteshaus scheint ihnen der rechte Ort zu sein, um traurig zu werden."
Er zieht das Fazit, dass Menschen in der Kirche nicht in erster Linie Trost suchen, sondern die Möglichkeit, sich einzugestehen, dass vieles nicht so ist, wie es sein soll. "Es gibt ein Bedürfnis nach Prüfung, Selbstprüfung, nach Selbsterkenntnis auch in der Unzulänglichkeit", schreibt der Journalist. Er zieht Parallelen zu den Kandidaten in Castingshows, deren Motivation darin liege, sich einen genauen Blick auf ihr eigenes Tun und Lassen zu wünschen. Ein solcher Blick würdige die Person viel mehr als ein bagatellisierendes "Macht nichts".
"Auf Trost zielende Wohlfühlreligion entmündigt"
Da der Protestantismus eine "Konfession des Selbstzweifels und der Gewissensbefragung" sei, könnte sich daraus für die evangelische Kirche eine missionarische Chance ergeben bei der Frage, wie wieder mehr Menschen für den Glauben zu interessieren sind. Martin Luther habe seinerzeit erkannt, dass das neuzeitliche, sich seiner Autonomie bewusste Individuum vor der ungeheuren Herausforderung stehe, allein mit der Allmacht des göttlichen Richters konfrontiert zu sein.
Die Rechtfertigung aus dem Glauben sei undenkbar ohne das Bewusstsein der eigenen Sündigkeit, so der "Welt"-Redakteur. Mit "Höllendrohungen", wie es sie zu Luthers Zeiten noch gegeben habe, könnten Menschen wenig anfangen. Aber eine unentwegt "auf Trost zielende Wohlfühlreligiosität, die immer noch durch viele Gottesdienste geistert", entmündige ebenfalls. "Betüternde Seelsorgerlichkeit" stelle Selbstzweifel und Verzagen als Defizite dar, die es zu überwinden gelte, nicht aber als Möglichkeit, aus der "funktionalisierenden Psycho-Wellness der Angestelltenwelten hinauszutreten und zu erkennen, was es heißt, verantwortliches Individuum zu sein".
Kamann fordert die evangelische Kirche auf, während ihrer Luther-Dekade diese Bedürfnisse der Menschen zu erkennen und zu stillen. Er erinnert an die "Verheißung, die im Selbstzweifel und in der Gewissensbefragung, der christlichen Buße", liege. Das größere Versprechen sei jedoch, aufrecht vor Gottes Gericht zu treten und sein Auge als würdigendes auf sich ruhen zu wissen. "Unendlich ist dieses Auge sowohl in seiner Gnade als auch darin, dass wir ihm nicht ausweichen können. Es fragt, wer wir sind und was wir getan haben." Auf Gnade könnten diejenigen hoffen, die sich diese Frage schon heute stellen. (pro)
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