„Brauchen authentische Eltern – und keine Schauspieler“

Wie erziehen wir unsere Kinder richtig? Diese Frage beschäftigt nicht nur den dänischen Bestsellerautoren und Familientherapeuten Jesper Juul. Er gilt als Verfechter einer entspannten Erziehung. In seinem neuesten Buch "Miteinander – Wie Empathie Kinder stark macht" zeigt er Mittel und Wege auf, Kinder zu unterstützen. Im Interview mit "Spiegel" und "Focus" kritisiert er auch die deutsche Pädagogik.

Von PRO

In seiner Praxistätigkeit nehme er wahr, dass bei Kindern oft schon ab dem zwölften Lebensjahr die Besserwisserei der Erwachsenen nicht mehr funktioniere. "Was die Jugendlichen fortan brauchen, ist ein Sicherheitsnetz, das sie auffängt", fordert der 63-Jährige im "Focus"-Interview. Viele Eltern hätten sehr große Probleme mit ihren Sprösslingen, weil ihnen das Urvertrauen in sie fehle. Statt einen Dialog mit den Kindern zu führen, würden Eltern in vielen Fällen nur monologisieren. Auch bei Streitigkeiten einen Dialog zu führen sei dann möglich, "wenn die Eltern authentisch sind und es riskieren, ehrlich zu sein".

Juuls neuestes Buch, das er gemeinsam mit fünf weiteren skandinavischen Autoren verfasst hat, will dabei helfen, Fähigkeiten wieder zu entdecken, die Menschen eigentlich beherrschen. Die Autoren bemängeln, dass Kinder heute schon von klein auf mental gesteuert werden. Das Familienleben, die  Kindererziehung und die schulische Pädagogik seien in der Vergangenheit immer stärker verwissenschaftlicht worden.



An gleichaltrigen Meinungsmachern vorbeimanövrieren



Ein Fehlen gemeinsamer Normen und Werten habe Kindern und Erwachsenen zwar eine große persönliche Freiheit eröffnet, zugleich müssten Eltern aber ständig Entscheidungen treffen, weil die notwendigen Raster fehlen. Auch die Kinder "müssen mit neun bis zehn Jahren über sich Bescheid wissen, dass sie sich einigermaßen sicher und unversehrt an den unzähligen, erwachsenen, aber auch gleichaltrigen Meinungsmachern und Verführern vorbeimanövrieren können".



Die meisten europäischen Kinder seien heutzutage extrem von äußeren Reizen abhängig, die sie gestresst, selbstgefällig, nervös und unkonzentriert machten. Zugleich agiere das Schulsystem mit dem Ziel, effiziente Mitglieder einer Industrienation zu formen. Aus Sicht der Autoren sind deswegen Freundlichkeit und Selbstsicherheit keine vagen oder weichen Werte, sondern die härteste und wichtigste Währung für einen selbstbewussten Nachwuchs. Ein durch die  Vernunft gesteuerter Verstand – den die Autoren keineswegs ablehnen – müsse in vielen Fragen durch Entscheidungen des Herzens ergänzt werden.



"Mit echten Menschen aufwachsen"


Auch im Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" findet Juul deutliche Worte zur Erziehung von Kindern: "Das Beste ist, wenn sie mit echten Menschen aufwachsen und nicht mit Schauspielern, die immerzu ihre Elternrolle aufführen. Wer dauernd pädagogisch handelt, zieht den Nachwuchs zur Gefühlskälte heran. Solche Kinder erfahren nie, dass andere Menschen auch Gefühle und Grenzen haben." Gute Erziehung finde zwischen den Zeilen statt und habe auch damit zu tun, wie die Eltern miteinander umgehen, wie sie mit dem Bäcker sprächen und wie sie zu ihren Verwandten stünden.

Viele Eltern betrachteten ihre Elternschaft als Projekt, bei der sie sich gerne als  erfolgreiche Mutter oder erfolgreicher Vater fühlen wollten. Viel wichtiger sei es jedoch, "persönliche Maßstäbe und Überzeugungen vorzuleben. Kinder spüren sehr schnell, ob sich jemand sicher ist".

Ein ungeheurer Bildungsdruck


Kritisch sieht Juul auch das deutsche Bildungssystem: "Die Lehrer finden die Schüler schrecklich, die Schüler fühlen sich gegängelt, die Eltern überfordert." Dadurch entstehe ein ungeheurer Bildungsdruck, der wiederum einen enormen Gegendruck erzeuge. Oberste Priorität müsse deswegen der Aufbau einer gut funktionierenden Beziehung zwischen Eltern und Lehrern haben.



Im Rahmen des "Spiegel"-Interviews verweist der 63-Jährige auch auf Studien, wonach ein Teil der Ein- bis Zweijährigen darunter leide, in einer Kindertagesstätte betreut zu werden und Trennungsängste habe: "Ich glaube, es ist besser, wenn unsere Kinder die ersten drei Jahre mit ihren Eltern verbringen dürfen", erklärt der Familientherapeut. Stark im Berufsleben engagierten Vätern empfiehlt er, vor allem nicht die Beziehung zu den Kindern zu verlieren. Es gebe zwar keine perfekte Familie: "Doch die größte therapeutische Kraft in unserem Leben ist die Familie", ergänzt er.

Wie geht es unseren Kindern?


Wenn Kinder acht bis neun Stunden pro Tag Computer spielten, hätten sie den Kontakt mit ihren Eltern abgebrochen. Doch das kommt nicht vom Computer spielen: "Es kommt daher, dass die Familie nicht funktioniert und die Kinder nicht Widerstandskraft, sondern eine unheimliche Wut aufbauen." Viele Eltern  wüssten oft nicht, wie es ihren Kindern geht. "Unser großer Fehler ist, dass wir nur darauf schauen, wie sich jemand verhält, nicht darauf, wie es ihm geht", bilanziert Juul. (pro)

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