epd: Der Rias-Bericht (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus, d. Red.) für 2024 zeigt, im Jahr nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober sind Jüdinnen und Juden in Deutschland tagtäglich mit Antisemitismus konfrontiert, im öffentlichen Raum, in der Schule, an der Uni oder am Arbeitsplatz. Was erleben Jüdinnen und Juden hierzulande?
Michael Blume: Am häufigsten erleben Jüdinnen und Juden eine Täter-Opfer-Umkehr und Schuldumkehr. Sie werden dabei für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich gemacht, obwohl sie meist gar keine Israelis sind und oft selbst etwa der Kriegsführung in Gaza kritisch gegenüberstehen. Zudem wird unterschlagen, dass Israel 2005 den Gaza-Streifen geräumt und die Hamas am 7. Oktober 2023 den Krieg mit einem Terrormassaker eröffnet hat, auch immer noch Geiseln hält. Gerade auch eher linksorientierte und etwa studierende Jüdinnen und Juden erleben oft eine Entsolidarisierung, wenn plötzlich etwa auch sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Kinder als vermeintlicher „Widerstand“ verharmlost wird. Der traurigste Hashtag dazu bezieht sich auf die Metoo-Bewegung gegen solche Gewalt und lautet: #Metoounlessyouareajew, auf Deutsch: Leute erklären sich für mitbetroffen, außer wenn es um Jüdinnen geht.
Welche Formen von Antisemitismus sind vorherrschend?
Es dominiert ganz klar der digitale Antisemitismus, in dem sich die verschiedensten, judenfeindlichen Strömungen vermischen. So bietet beispielsweise der lange aus Stuttgart gesendete Podcast „Hoss & Hopf“ Verschwörungsmythen von angeblichen Mossad-Morden über Wissenschaftsleugnung bis zur Brunnenvergiftung des Bodenseewassers. Und die zwei dabei sehr sympathisch wirkenden KryptoBros mit und ohne Migrationsgeschichte erreichen und radikalisieren vor allem junge Männer, haben im Netz mehr Reichweite als alle demokratischen Parteien in Baden-Württemberg zusammen! In allen Milieus gibt es israelbezogenen Antisemitismus, der sich in Aussagen zeigt wie „Jüdinnen und Juden sind selbst schuld an der Attacke der Hamas, so wie sie die Palästinenser behandelt haben“. Oder eben auch „Juden verhalten sich nun so wie die Nazis früher“.
Wie weit verbreitet sind Ihrer Meinung nach solche Überzeugungen in der Gesellschaft?
Ich erlebe sie als weit verbreitet, und zwar aus unterschiedlichen Motiven. Viele Ältere hegen Schuldkomplexe und versuchen sich dann durch NS-Gleichsetzungen zu entlasten. Und viele Jüngere informieren sich vor allem über TikTok und fallen dort auf hetzerische Propaganda herein. Wir haben ja nun bei den Wahlen in Rumänien und Polen gesehen, wie enorm schnell und weit sich auch antisemitische Botschaften inzwischen digital verbreiten.
„Am häufigsten erleben Jüdinnen und Juden eine Täter-Opfer-Umkehr und Schuldumkehr. Sie werden dabei für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich gemacht, obwohl sie meist gar keine Israelis sind und oft selbst etwa der Kriegsführung in Gaza kritisch gegenüberstehen.“
Wie können wir als Gesellschaft antisemitismuskritisch aufklären, ohne antisemitische Aussagen zu reproduzieren? Das ist ja auch für die Medien ein Dilemma.
Blume: Ja, das ist so. Wir stellen fest, dass auch das erzieherisch gemeinte Zeigen etwa von antisemitischen Karikaturen der Nazis ohnehin sensibilisierte Menschen weiter aufklärt, aber zu Rassismus und Antisemitismus neigende Menschen in ihren Ressentiments verstärkt! Deswegen gilt es immer zu überlegen, mit welchen Zielgruppen wir kommunizieren. So hatten wir beispielsweise den sorgfältig aufklärenden Podcast „Verschwörungsfragen“ eigentlich nur anstelle von Veranstaltungen für die Corona-Pandemie angesetzt und sind jetzt bass erstaunt über weit über 360.000 Downloads in fünf Jahren, also mehr als zweihundert pro Tag. Jedes Medium muss sich immer wieder selbst hinterfragen und am besten mit Leuten aus der praktischen Bildungsarbeit vernetzen. Und wenn etwas gelingt, dranbleiben!
Wie erreicht man auch junge Menschen im Netz, die beispielsweise geschichtsrevisionistisch jegliche Verantwortung für den Holocaust ablehnen?
Nach meiner Erfahrung haben nur sehr wenige Menschen in Deutschland – unabhängig vom Alter – schon mal den enormen Unterschied zwischen persönlicher Schuld und gesellschaftlicher Verantwortung bedacht. Bei Schuld geht es ja um die eigene Vergangenheit, Verantwortung lernt dagegen aus der Geschichte für die gemeinsame Zukunft. Es ist ermutigend zu erleben, wie junge und auch ältere Menschen ihre Perspektive verändern, wenn sie das einmal verstanden haben. Und wenn sie keine falsche Schuld mehr empfinden, entfällt auch das Motiv für eine Schuldumkehr. Dann geht es endlich um das Gemeinsame!
Wie kann es gelingen, positive Beispiele für starkes jüdisches Leben in Deutschland besser sichtbar zu machen?
Das lebendige, deutsche Judentum ist heute für ehrlich Interessierte nicht mehr zu überhören. Wir haben schon mitten in der Pandemie mit dem frei verfügbaren Film „Jung und jüdisch in Baden-Württemberg“ pädagogisch wirken können und freuen uns schon jetzt auf die Jewrovision jüdischer Jugendclubs 2026 in Stuttgart. Und auch im Podcast „Verschwörungsfragen“ sind wir vom Erklären in den Dialog mit jüdischen und nichtjüdischen Menschen übergegangen.
Vielen Dank für das Gespräch!