Maria Müller wäre in der Nazi-Zeit beinahe Opfer der Nationalsozialisten geworden. Als stark sehgeschädigtes Mädchen war ihr Leben für die Nazis kaum etwas wert. Im Buch „Siehst du die Grenzen nicht, können sie dich nicht aufhalten“ beschreibt Autorin Jutta Hajek, wie die junge Frau und spätere Mutter, mit drei ebenfalls sehgeschädigten Familienmitgliedern, ihren Alltag meistert. Ihr Sohn Stefan wird später Priester im Bistum Limburg.
1939 diagnostizieren die Ärzte bei der damals Zweijährigen eine starke Sehschädigung. Für sie und ihre Familie bedeutet dies, die Behinderung vor den Nazis zu verheimlichen. Maria muss sich einmal sogar vor den herannahenden Nazi-Schergen im Wald verstecken, weil die Familie anonym angezeigt worden war. Blinde und sehgeschädigte Menschen sahen die Nationalsozialisten als lebensunwertes Leben. Der tägliche Überlebenskampf schweißt die Familie zusammen.
„Meinem Mann war die Kirche bis dahin fremd“
Lieder für den Schulunterricht muss sie auswendig lernen, um nicht aufzufallen. Hausaufgaben macht sie unter freiem Himmel. Dort ist es heller und sie kann noch Reste erkennen. Sie nimmt die beinahe Blindheit überraschend positiv an. Sie zieht nach der Schule nach Frankfurt und lernt in dieser Zeit ihren katholischen Glauben schätzen.
Ihren Mann Josef lernt sie 1963 auf einem Kongress in Konstanz kennen. Auch er hat als Zwölfjähriger sein Augenlicht weitgehend verloren. Zwei Jahre später heiraten sie. Maria Müller über ihren Ehemann: „Ich kannte die Kirche zwar seit meiner Kindheit, aber Josef war sie fremd.“ Das sollte sich ändern. Er beschäftigt sich intensiv mit der Theologie und studiert sie in einem Fernkurs. Maria bringt Stefan und Christof zur Welt, die ebenfalls blind beziehungsweise stark sehgeschädigt sind.
Auf den folgenden Seiten erzählt die Autorin Jutta Hajek dann die Geschichte aus Sicht der beiden Söhne weiter. Die Eltern hätten ihnen oft von Gott erzählt und das Bild eines liebenden Vaters vermittelt, erklärt Stefan: „Ich tue mich leicht damit, mir Gott als Vater vorzustellen.“ Vor allem Stefan diskutiert mit seinem Vater gerne über theologische Themen.
Kann ein Blinder Pfarrer werden?
Für die Brüder ist der Katholikentag 1986 in Aachen ein wichtiges Gemeinschaftserlebnis. Beide wollen authentisch als Christen leben. Für Stefan bedeutet dies, dass er sich ernsthaft mit dem Berufswunsch Priester auseinandersetzt. Kann das als Blinder gelingen? Nach einem Vorbereitungsseminar erhält er die Zusage. Der Tod des Vaters 1987 lässt ihn an Gott zweifeln, am Berufswunsch hält er fest.
Manche Fragen bleiben: Kann er einen Beruf ausüben, in dem er in der Seelsorge die Gestik und Mimik des Gegenübers wahrnehmen sollte? Das Studium ist hart, er bekommt viel Gegenwind von Mitstudenten, aber er hält durch und merkt, dass seine Einschränkung kein Hinderungsgrund ist: „Gott kann in meiner Schwachheit seine Liebe zum Ausdruck bringen.“ In dieser Zeit begegnet er Anna. Es funkt bei dem angehenden Theologen und er hinterfragt seine Berufswahl. Doch die beiden gehen getrennte Wege.
Vor allem Studienkollege Andreas wird ihm zum wichtigen Begleiter. 1997 wird er in Limburg zum Priester geweiht. Er möchte das „Geschenk des Glaubens“ weitergeben. Er weiß, dass ein gläubiger Christ nicht erfolgreicher und gesünder ist als andere Menschen. Weitergeben möchte er Gottes grenzenlose Liebe und die eigene Hoffnung über den Tod hinaus.
Das spornt ihn an. Er bekommt zahlreiche Aufgaben übertragen. Neben den üblichen Amtshandlungen ist er für die Sambia-Partnerschaft und – natürlich – für die Blindenseelsorge im Bezirk Limburg zuständig. Er hat seinen Traumberuf gefunden, in dem er seine persönlichen Freiräume nutzen darf.
Vertrauen in Jesus gibt Halt
Ähnlich geht es einem Bruder Christof, der die eigene Kindheit als „Zeit ohne Not“ wahrnahm. Die gemeinsame Schulzeit mit Stefan genießt er. Ihr Christsein macht sie zwar zum Außenseiter. Aber der sonntägliche Gottesdienst ist ihnen wichtiger als anderes. Auch die „Sauftouren“ der Mitschüler meiden sie: „Wir waren es gewohnt, gegen Widerstände zu kämpfen.“
Als Lehramtsanwärter ist er der erste Blinde im Studienseminar. Auch das ist nicht einfach. Sein Vertrauen in Jesus gibt ihm Halt. Er unterrichtet in einer Schule im Taunus. Christof weiß die Unterstützung des Sozialstaats zu schätzen, der ihm optimale Rahmenbedingungen verschafft. Der Alltag als blinder Lehrer stellt ihn immer wieder vor Herausforderungen. Manche Schüler bemitleiden ihn, andere stellen verletzende Fragen. Für Müller sind Offenheit und Ehrlichkeit wichtige Faktoren, um seinen Beruf auszuüben. Wenn er mit Schülern die Holocaust-Gedenkstätte Hadamar besucht, diskutiert er mit ihnen, wie sie wohl damals mit Behinderten umgegangen wären.
Ehrenamtlich engagiert er sich in der Kommunalpolitik: „Hier konnte ich gleichwertig mittun.“ In der Gemeinde bietet er Gesprächsabende an. Menschen sollen offen und ehrlich über Glaubensthemen reden. Ihn fasziniert, wie sich im Katholischen Blinden-Werk sehgeschädigte Menschen für andere einsetzen, denen es genauso geht.
Die Autorin erzählt drei interessante und unterhaltsame Lebensbilder, in denen der Glaube eine wichtige Rolle spielt. Allen Dreien ist wichtig, dass Glaube und öffentliches Engagement zusammengehören. Sie wollen Frieden zwischen den Menschen fördern. Deshalb versuchen die Mutter und die beiden Söhne ihren Glauben authentisch zu leben und andere anzustecken. Sie betrachten sich als geliebte Kinder Gottes. Diese Botschaft wollen sie weitergeben – trotz oder gerade mit ihrer Behinderung. Das gelingt mit dem Buch.
Jutta Hajek, Siehst du die Grenzen nicht, können sie dich nicht aufhalten, bene!, 224 Seiten, 16,99 Euro, ISBN: 9783963400759
Von: Johannes Blöcher-Weil