„Ich bin kein großer Philosoph, kein Theologe, kein Intellektueller“, erklärte Billy Graham schon in den frühen Jahren seiner Laufbahn als der bedeutendste Evangelist des 20. Jahrhunderts. „Meine einzige Spezialität ist das Gewinnen von Seelen.“ Demut ist zweifelsfrei eine der wichtigsten Eigenschaften, die Billy Graham charakterisiert. Beim Lesen von „Ruth und Billy Graham. Das Vermächtnis eines Ehepaars“ kommen immer wieder Beispiele für diese Demut zur Sprache, oftmals in Form von Anekdoten von Zeitzeugen und Weggefährten. So habe Graham beispielsweise auf einem Kongress 1983 flach auf dem Boden liegend für deutsche Evangelisten gebetet. Am Rande des gleichen Treffens habe er bei einem Essen gesagt, wie unwürdig er sich fühle, Evangelisten zu unterrichten, die in ihren Heimatländern für ihren Glauben verfolgt werden. „Billy fühlte, dass diese Menschen ihn lehren sollten, nicht umgekehrt.“
Die mit zahlreichen Schwarz-Weiss-Fotos ausgestattete Biografie nimmt den Leser anhand der Leben von Ruth und Billy Graham mit auf eine Reise durch die Geschichte der USA und Europas, vom Beginn des Kalten Krieges bis zu Grahams letzter Massenevangelisation 2005 in New York. Bis auf Harry S. Truman und Barack Obama kannte Graham alle US-Präsidenten schon Jahre, bevor sie ins Amt gewählt worden waren: So lernte er Ronald Reagan 28 Jahre vor dessen Amtseinführung bei einem Golfspiel kennen. Als Graham 1959 in einer Stadt namens Little Rock in Arkansas predigte, stand ein 13-jähriger Junge im Publikum: Der spätere US-Präsident Bill Clinton. Clinton sollte später sagen, er sei so bewegt von der liebevollen Predigt in Zeiten des Rassenhasses gewesen, dass er ab und an etwas von seinem Taschengeld an Grahams Missionswerk gespendet habe.
„Amerikas Pastor“ wollte nie Politik machen
Kein Wunder also, dass Billy Graham auch „Amerikas Pastor“ genannt wurde. Der Versuchung, selbst Politik zu machen, ist er dabei nie erlegen: Mehrfach wurden ihm Posten im Kabinett angeboten, die er ablehnte, ebenso wie den Ratschlag, selbst für die Präsidentschaft zu kandidieren. Als Billy bei einem Gespräch mit Lyndon B. Johnson anfing, ihm politische Ratschläge zu erteilen, gab Ruth ihm unter dem Tisch einen leichten Tritt. Die Tendenz, die Botschaft Gottes bisweilen zu sehr mit der amerikanischen Kultur vermischt zu haben, bezeichnete Graham mehrfach als einen Fehler, der ihm in jungen Jahren unterlaufen sei.
Hanspeter Nüesch ist eine bewegende Nahaufnahme der Grahams gelungen, die auch deswegen so lesenswert geworden ist, weil der Autor Graham selbst mehrfach getroffen und mit dessen Angehörigen, allen voran seiner Tochter Gigi, zusammengearbeitet hat. Dass Nüeschs aus seiner Begeisterung für die Grahams keinen Hehl macht, tut dem Buch keinen Abbruch.
Das Vermächtnis der Grahams zeigt, wie Ehepartner, die sich gegenseitig den Rücken stärken, die Welt verändern können. Ohne den Einfluss von Ruth, das klingt immer wieder durch, hätte Billy Graham seinen Dienst nicht tun können. Und ohne Billys starke Schulter hätte Ruth kaum die Kraft gehabt, ihre fünf Kinder großzuziehen und ein offenes Ohr und liebe Worte für alle Menschen zu haben, die sie traf. Gerade Ehepaare dürften das Buch daher mit Gewinn lesen.
Eine Einschätzung Nüeschs zu Beginn des Buches sei an dieser Stelle als Fazit zitiert: „Ruth und Billy Graham haben in ihrem Leben Wahrheit mit Liebe verbunden. Sie stehen für ein freundliches, warmherziges Antlitz des Christentums. Ihr Leben und Dienst ist der Beweis, dass Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit nicht auf Kosten einer klaren biblischen Haltung gehen müssen.“ (pro)
Hanspeter Nüesch: „Ruth und Billy Graham. Das Vermächtnis eines Ehepaars“, SCM Hänssler, 434 Seiten, 19,95 Euro. ISBN 9783775155038