pro: Frau Dümling, Sie haben 2010 in Heidelberg zum Thema „Migrationskirchen, interkulturelle Ökumene und Integration in Deutschland“ in Diakoniewissenschaft promoviert, danach waren Sie in den USA. Welche praktischen Erfahrungen werden Sie in den neu geschaffenen Lehrstuhl einfließen lassen?
Bianca Dümling: Bis Ende 2013 habe ich als stellvertretende Leitung der Interkulturellen Arbeit beim Emmanuel Gospel Center in Boston gearbeitet. Seit meiner Rückkehr nach Berlin 2014 arbeite ich in sehr unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern. Zum einen bin ich noch bei „Gemeinsam für Berlin“ angestellt und verantworte dort die interkulturelle Arbeit. Gleichzeitig arbeite ich freiberuflich als Dozentin, Referentin und Autorin im landeskirchlichen und freikirchlichen Kontext. Außerdem bin ich bei der Berliner Stadtmission als Sozialarbeiterin in einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete angestellt.Was hat Sie daran gereizt, dem Ruf nach Kassel zu folgen?
An der CVJM-Hochschule kommt vieles zusammen, was mir wichtig ist. Sie besitzt ökumenische Weite und engagiert sich für soziale Gerechtigkeit. Mit der Professur stellt sie sich den gesellschaftlichen Herausforderungen und möchte nicht nur über Integration reden, sondern auch darüber nachdenken, was interkulturelle Öffnung für die Hochschule bedeutet. Die Professur gibt mir die Möglichkeit, mich zu verorten und eine Kontinuität in Lehre und Forschung zu bekommen. Außerdem bleibe ich weiterhin vernetzt und aktiv in Berlin. Ich verlege lediglich meinen Arbeitsmittelpunkt nach Kassel. Durch die Stiftung Himmelsfels in Spangenberg fühle ich mich seit über zehn Jahren mit Nordhessen verbunden und habe auch in Kassel gute Beziehungen zu Migrationskirchen.Was ist wichtig bei interkultureller Arbeit?
In den letzten Jahren habe ich vor allem gelernt und gesehen, wie entscheidend die eigene Haltung und Beziehungen in der interkulturellen Arbeit sind. Viele Organisationen und Gemeinden wollen Programme, die sie nur umsetzen müssen. Aber bei der interkulturellen Arbeit gibt es keine Abkürzung. Ohne die Reflexion der eigenen Haltung, das Aufdecken der eigenen Vorurteile oder gar Rassismus ist es nicht möglich, ehrliche Beziehungen zu entwickeln. Das benötigt Zeit und kann durchaus schmerzhaft sein. Meine Praxiserfahrung ermöglicht mir es, relevante Forschungsfragen zu entwickeln. Im Kontext der Arbeit mit Geflüchteten höre ich immer wieder von jungen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, dass nur wenig von dem, was sie an der Hochschule gelernt haben, relevant für ihre Praxis ist. Solche Aussagen müssen ernst genommen werden. Es gilt, entsprechende Angebote zu schaffen, damit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter besser für die interkulturelle Realität unserer Gesellschaft vorbereitet werden.Wie ist der CVJM auf Sie aufmerksam geworden?
Diese Frage kann Ihnen die CVJM-Hochschule wahrscheinlich besser beantworten. Das Kolleg und die Hochschule haben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Himmelsfels die Weiterbildung zum ‚Integrationscoach‘ entwickelt. Da ich stellvertretende Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung bin, besteht natürlich eine Beziehung.Kirche und christlicher Glaube haben die Deutungshoheit über gelingendes oder gutes Zusammenleben in der pluralen Gesellschaft weitgehend eingebüßt. Kann das Verlorene zurückgewonnen werden?
Ich denke, dass die Kirche, vor allem in Form von Diakonie und Caritas, noch immer entscheidend zu einem gelingenden Zusammenleben beitragen. Gleichzeitig stimme ich Ihnen zu, dass viele lokale Gemeinden und aber auch Kirchenbünde ihre Chance verpasst haben, relevant das interkulturelle Zusammenleben in der Gesellschaft zu gestalten. Bis 2015 gehörten über 50 Prozent der Zugewanderten dem Christentum an. Aufgrund der Zusammengehörigkeit im Leib Christi hätten die Kirchen die Möglichkeit gehabt, ein Vorbild im Zusammenleben verschiedener Kulturen zu sein. Martin Luther King sagt, dass „the most segregated hour of Christian America is eleven o‘clock on Sunday morning“ („Die Stunde der größten Trennung des christlichen Amerikas ist elf Uhr am Sonntagmorgen“). Das gilt in den USA bis heute, aber auch für die deutsche kirchliche Landschaft. Die deutschen Gemeinden feiern vormittags ihren Gottesdienst. In den gleichen Räumen treffen sich nachmittags zum Beispiel die afrikanischen oder koreanischen Gemeinden ohne dass sie voneinander wissen geschweige denn sich begegnen. Vor einigen Wochen habe ich mit einem Pastor aus einem ländlichen Raum gesprochen, der meinte, dass wahrscheinlich die Hälfte seiner Gemeinde die AfD wählen würden. Die Gemeinde besteht aus ungefähr 700 Mitgliedern. Wenn ich mir das anschaue, dann hoffe ich, dass der sogenannte „christliche Glaube“ keine Deutungshoheit zurückgewinnt. Jesus Christus ist der Friedensfürst. Er kam auf die Welt, um Versöhnung zu bringen. Versöhnung mit Gott, mit mir selbst, untereinander und mit der Umgebung um uns herum. Wenn wir diesem Jesus nachfolgen und selbst Trägerinnen und Träger von Versöhnung werden, dann hat der christliche Glaube Kraft.Welche Rolle können aus Ihrer Sicht Kunst und Kultur bei der Vermittlung verschiedener Lebenswelten, aber auch verschiedener Religionen und Kulturen einnehmen?
Kunst und Kultur transportiert Emotionen auch ohne Sprache. Sie verbinden Menschen. Beim gemeinsamen Essen, Singen oder traditionellem Tanzen vermittelt Kunst und Kultur zwischen den Lebenswelten. Es gibt viele gelungene Beispiele hierfür, aber ich möchte drei nennen, die mich persönlich inspirieren. Zum einen das Sharehaus Refugio der Berliner Stadtmission. Dort werden regelmäßige somalische oder syrische Tanzveranstaltungen mit Abendessen angeboten. Am Café Why Not? in Hamburg mag ich besonders die interkulturellen Jam Sessions. Dann ist natürlich der Himmelsfels, der das als Ort verkörpert. Der Himmelsfels ist offiziell ein Kunstpark. Kunst und Kultur prägt das Gelände, die Begegnungen und Veranstaltungen. Entscheidend ist jedoch, dass etwas gemeinsam entwickelt oder durchgeführt wird. In den letzten Monaten bekam ich immer wieder Anrufe von Organisationen, die einen Geflüchteten für „ihr“ Kunstprojekt suchen, um zum Beispiel einen Klanggarten mit geflüchteten Kindern zu gestalten. Das ist dann eher kontraproduktiv.Warum ist das kontraproduktiv?
Diese Projekte sind oft aus deutscher Perspektive entwickelt worden und knüpfen nicht an der Realität und den Bedürfnissen der geflüchteten Kinder an. Die Kinder kooperieren oft nicht so, wie die Projektbeschreibung es vorsieht. Oft fehlt den Projektleiterinnen und Projektleitern Erfahrung mit geflüchteten Kindern und die Fähigkeit das Projekt an die Situation anzupassen. Am Ende sind alle Seiten frustriert und das Projekt trägt dazu bei, dass mögliche negative Vorurteile von bestimmten ethnischen Gruppen verstärkt werden. Das ist dann kontraproduktiv.Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Norbert Schäfer. Der Lehrstuhl wird zunächst für die Dauer von drei Jahren von dem mittelhessischen Unternehmer Friedhelm Loh finanziert. Mit dem neuen Lehrstuhl entsteht nach eigenen Angaben ein interdisziplinäres Forschungsteam an der CVJM-Hochschule, dass den Bereich Migration, Integration und Interkulturalität bündeln wird. Um die Auswirkungen der Migration auf das kirchliche und soziale Leben zu untersuchen, beabsichtigt die CVJM-Hochschule ihrerseits eine Zusammenarbeit mit der Universität Greifswald. Dort forscht der Theologe Michael Herbst auf diesem Gebiet. An der CVJM-Hochschule Kassel studieren derzeit 333 Studierende in Voll- und Teilzeit in den Bachelorstudiengängen Religions- und Gemeindepädagogik sowie Soziale Arbeit. (pro)