Vorbei an Kinos und Cafés, Bistros und Boutiquen geht der Marsch, vorbei auch an Ku’damm-Wahrzeichen wie Gedächtniskirche und KaDeWe. „Da kommt ’ne Demo“, erklärt ein Vater nach einem kurzen Blick lapidar seinem Sohn, den die Polizeieskorte mit viel Blaulicht fasziniert. Anderen Passanten fallen die blau-weißen Israelfahnen auf, die einige der rund 430 Marschierenden schwenken. Viele tragen eine Kippa, nicht nur Juden, auch andere „Marsch des Lebens“-Teilnehmer haben die jüdische Kopfbedeckung als Zeichen ihrer Solidarität aufgesetzt.
Ein ganzes Stück der etwa zwei Kilometer langen Strecke bis zum Wittenbergplatz läuft der künftige Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, in erster Reihe mit. „Die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten ist eine politische Daueraufgabe einer jeden Bundesregierung“, sagt Klein zum Auftakt des Marsches. Er werde sich in seiner neuen Aufgabe dafür einsetzen, dass Bildung und Erziehung in diesem Bereich viel stärker gefördert würden. Dieser Marsch zeige, dass Antisemitismus kein jüdisches Problem sei, sondern ein Problem für alle, das alle bekämpfen müssten. Dazu trage diese Aktion bei. Initiiert wurde sie vom Verein „Marsch des Lebens“ und dem Berliner „Forum Israel – nie wieder schweigen!“.
Wenn „Jude“ wieder ein Schimpfwort ist
Als Christ ein Zeichen setzen – so formuliert ein Rentner seine Motivation, mitzumarschieren. „70 Jahre Israel müssen gefeiert werden“, meint ein anderer. „In Israel sind die Wurzeln unseres Glaubens, da gehören wir dazu“, fügt seine Frau hinzu. Eine junge Frau möchte etwas gegen Antisemitismus tun und gerade heute ein Zeichen gegen die Vergangenheit setzen. „Wenn man hört, dass ‚Jude‘ wieder ein Schimpfwort auf Schulhöfen ist, dann glaube ich, kippt die Stimmung gerade wieder.“
Einige junge Leute kommen bei der Kundgebung nach vorne und bekennen die Schuld in ihren Familien. Sein Urgroßvater sei ein Schreibtischtäter gewesen und habe den Erfolg des Systems der Nazis möglich gemacht, erzählt ein 24-Jähriger. Der Großvater einer Frau sei in der NSDAP und der SA gewesen, sie wolle heute ihre Stimme gegen jede Form von Antisemitismus erheben, erklärt sie. Generationen später tun die jungen Leute Abbitte und überreichen anwesenden Mitgliedern des Vereins „Phönix aus der Asche – Die Überlebenden der Hölle des Holocaust“ Rosen.
CDU-Politiker: Gastrecht nicht mißbrauchen
Ein Holocaust-Überlebender ist der Journalist Peter Neuhof, geboren 1925. Er überlebte das Naziregime als Kind einer jüdischen, kommunistischen Familie. Als er Erinnerungen vorliest, versagt ihm immer wieder die Stimme. Bevor sie in den Zug ins KZ Ravensbrück steigen musste, konnte seine Mutter einem Polizisten eine Nachricht zustecken, berichtet er. „Nein, ich vergesse nichts und ich werde nichts vergessen. Die Mörder meines Vaters nicht, die Mörder von 16 meiner engsten Angehörigen nicht, die in den Gaskammern zu Tode gequält und ermordet wurden. Aber ich vergesse auch nicht die mutige Tat des unbekannten Polizisten, der den Zettel in ein Kuvert steckte, frankierte und in einen Briefkasten warf.“
Neuhof spricht vom großen Glück, überlebt zu haben. Er habe in seinem langen Leben zur Genüge Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Faschismus erlebt. Deshalb sei er mehr als besorgt über das Anwachsen rechter Gruppen, ob AfD oder Pegida. „Das rechte Spektrum ist nicht zu übersehen und zu überhören, in ganz Europa. Bedenkliche Zeichen der Zeit, beunruhigende Zeichen der Zeit. Niemand sollte die Augen verschließen und wegsehen. Widerstand ist angesagt. Der ‚Marsch des Lebens‘ setzt da ein Zeichen.“
Bei der Abschlussveranstaltung auf dem Wittenbergplatz betont Volkmar Klein (CDU), Mitglied der Unions-Bundestagsfraktion, wie wichtig das Erinnern sei, weil es mit einer Verantwortung für die Zukunft verbunden sei. Wer nach Deutschland komme, müsse sich in diese gemeinsame Verantwortung mit hineinbegeben, so Klein. „Wenn einige das Gastrecht missbrauchen und gegen Juden und Israel hetzen, dann ist das nicht in Ordnung und dann sind die auch nicht willkommen.“
Yorai Feinberg, Besitzer eines israelischen Restaurants in Ku’damm-Nähe und selbst mehrfach Opfer antisemitischer Hetze, bringt neben „Wut und Traurigkeit“ auch zum Ausdruck, wie gut die vielen Solidaritätsbekundungen täten. Neben dem Gedenken an den Holocaust vor vielen Jahrzehnten vermittle der Marsch für die Gegenwart vor allem diese Botschaft: Wachsam zu sein und sich Antisemitismus mutig entgegenzustellen.
Weltweit finden laut dem Veranstalter dieses Jahr etwa 50 „Märsche des Lebens“ rund um das Datum des israelischen Holocaustgedenktages Jom HaScho’ah statt. Der israelische Nationalfeiertag ehrt zum einen das Andenken an die Scho’ah-Opfer, die von den Nationalsozialisten ermordeten Juden, zum anderen den jüdischen Widerstand. Die internationalen Märsche münden zum 70. Jahrestag der Staatsgründung Israels am 15. Mai 2018 in einen „Marsch der Nationen“ in Jerusalem.
Die Bewegung „Marsch des Lebens“ gibt es bereits seit 2007. Initiatoren sind Jobst und Charlotte Bittner von „TOS Dienste Tübingen“, einer Gruppe, die aus der Tübinger Offensiven Stadtmission, einer evangelischen Freikirche charismatischer Prägung, hervorgegangen ist. Der erste Gedenkmarsch ging von der Schwäbischen Alb nach Dachau. Seitdem haben nach Angaben der Initiative Märsche in mehr als 20 Nationen und über 350 Städten und Ortschaften stattgefunden. „Erinnern – Versöhnen – ein Zeichen setzen“, so das Motto. Im „Forum Israel – nie wieder schweigen!“ engagieren sich seit 2014 Christen aus verschiedenen Gemeinden und Denominationen gegen Antisemitismus in Berlin.
Von: Christina Bachmann