Die Studie „Die enthemmte Mitte“ der Universität Leipzig sorgt schon durch den reißerischen Titel für Aufmerksamkeit. Bei allem Erkenntnisgewinn hat sie doch ihre Schwächen. Journalisten sollten da genauer hinsehen. Ein Kommentar von Jonathan Steinert
Chauvinismus, ein übersteigertes Nationalgefühl, gilt in der Forschung als ein Aspekt rechtsextremer Einstellungen
Die „Mitte“ ist enthemmt, so propagiert es der Titel einer aktuellen Studie der Uni Leipzig zum Thema Rechtsextremismus in Deutschland. Das lässt aufhorchen und gibt einen schlagzeilenträchtigen Titel. Spiegel Online meldete denn auch: „Studie zu Rechtsextremismus: Deutschlands hässliche Fratze“, Zeit Online überschrieb seinen Beitrag mit „Deutschland auf rechten Abwegen“. Den Kern der Studie trifft das nicht. Denn schaut man sich ihre Ergebnisse der Studie genauer an, stellt sich die Frage: Inwiefern ist die gesellschaftliche Mitte enthemmt?
Eines der Ergebnisse ist, dass eine „geschlossene rechtsextreme Einstellung“ auf dem niedrigsten Wert seit Beginn der Langzeitstudie vor 14 Jahren angelangt ist. Fünf Prozent der bundesweit repräsentativ Befragten weisen 2016 ein solches Weltbild auf. Es waren schon mal doppelt so viele. Insgesamt haben sich rechtsextreme Einstellungen im Vergleich zu vor zwei Jahren kaum verändert. Die große Zahl von Flüchtlingen hat darauf offenbar kaum einen Einfluss, stellten die Forscher fest. Die demokratischen Milieus der Gesellschaft sind der Studie zufolge sogar gewachsen.
Die Studie liefert dennoch Erkenntnisse, die tatsächlich warnen und hellhörig machen: Denn gleichzeitig habe sich die Gesellschaft polarisiert, Menschen mit rechtsextremem Einstellungspotenzial seien noch eher gewaltbereit. Die Vorbehalte gegenüber Muslimen, Homosexuellen sowie Sinti und Roma sind stärker geworden. So geben etwa 41 Prozent der Befragten an, Muslime sollten nicht nach Deutschland einwandern dürfen, die Hälfte der Deutschen fühlt sich ihretwegen fremd im eigenen Land. Fast ebensoviele wollen Sinti und Roma aus den Innenstädten verbannen. Das sind bedenkliche Werte.
Fragwürdige Fragen
Allerdings muss an mehreren Punkten der Studie gefragt werden, ob die gestellten Fragen wirklich das messen, was sie sollen. Über 80 Prozent der Befragten sind beispielsweise der Meinung, „bei der Prüfung von Asylanträgen sollte der Staat nicht großzügig sein“. Das wird als Indiz für eine Abwertung von Asylbewerbern gewertet. Das ist fragwürdig. Denn der Staat sollte in jedem Fall gerecht und begründet entscheiden. Großzügig ein Auge zudrücken ist keine rechtsstaatliche Größe, weshalb eine solche Abfrage auf eine falsche Fährte führt. Ähnlich die Aussage „Es ist ekelhaft, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen“, was die Forscher als Abwertung Homosexueller verstehen. Aber ob ein Mensch etwas eklig oder unappetitlich findet, ist in erster Linie eine Frage der Wahrnehmung, keine Einstellung, als die es hier verkauft wird.
Es zeigt sich einmal mehr: Wenn Journalisten über die Ergebnisse von Studien berichten, sollten sie genauer hinschauen und nicht nur die schnelle Schlagzeile suchen. So hielten es auch nicht alle Medien, die über die „enthemmte Mitte“ berichteten – noch nicht einmal die Deutsche Presse-Agentur –, für notwendig, zu erwähnen, dass die Studie in Zusammenarbeit mit der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, der mit den Linken verbundenen Rosa-Luxemburg-Stiftung, sowie der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung entstand. Mit wissenschaftlichen Studien lässt sich Politik machen. Das ist gerade dann nicht unwahrscheinlich, wenn politische Stiftungen daran beteiligt sind. Journalisten können diese Zusammenhänge erklären – oder sich zum Vehikel machen. (pro)
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